Die doomsday clock, übersetzt Weltuntergangsuhr, steht seit Januar 2020 auf einhundert Sekunden vor zwölf. Im Bulletin of the Atomic…
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Die doomsday clock, übersetzt Weltuntergangsuhr, steht seit Januar 2020 auf einhundert Sekunden vor zwölf. Im Bulletin of the Atomic Scientists schätzt ein Expert*innengremium alle zwei Monate mithilfe dieser symbolischen Uhr ein, wie nah wir mit der (menschlichen) Welt vor dem Abgrund stehen. Der letzte Rekordwert lag 1953 bei zwei Minuten vor zwölf, als die internationale Lage nach dem Ausbruch eines atomaren Krieges aussah. Heute ist die Uhr hauptsächlich von den existenziellen Gefahren eines Atomkriegs und der Klimakrise geprägt. Diese werden noch verstärkt durch „einen Cyberkrieg der Informationen“ und eine stetig abnehmende politische Sicherheit und Infrastruktur. Denn viele Entscheidungsträger*innen weltweit weigern sich, die aktuellen Herausforderungen ernsthaft und in internationaler Zusammenarbeit koordiniert anzugehen und versinken stattdessen tragischerweise in- wenn überhaupt- nationalistisch gedachten Handlungsansätzen.
„Wie war es, so kurz vor dem fast-Untergang zu leben?“ – werden vielleicht (hoffentlich!) irgendwann einmal Kinder ihre Großeltern fragen. Vielleicht sollten wir es uns diese Frage einmal selbst stellen: Was macht es mit Menschen in so einer Welt zu leben, kurz vor dem Abgrund? Merken wir es überhaupt?
Nichtstun ist auch ein Problem
Ich denke, wir können davon ausgehen, dass die meisten Menschen gegen die Zerstörung unserer Erde sind. Niemand will, dass unsere Lebensgrundlage, die Natur, gesunde Ökosysteme verschwinden- eigentlich. Einige tragen nichts oder nur wenig zu ihrer Zerstörung bei, doch nur ganz Wenige arbeiten aktiv dagegen.
Die Sache ist aber die: wenn du nicht aktiv gegen die Zerstörung arbeitest, bist du Teil des Problems.
Verdeutlichen wir das am Beispiel Rassismus. Wenn du nicht-rassistisch bist (bist du zwar wahrscheinlich trotzdem – oft steckt Rassismus in Strukturen, Mustern und Gewohnheiten, die wir verinnerlicht haben ohne uns dessen bewusst zu sein), dann nimmst du nicht aktiv teil an rassistischer Diskriminierung. Du nimmst nicht teil, du würdest aber auch nicht dazwischen gehen, wenn eine Person in der U-Bahn Mitmenschen rassistisch beleidigt. Und genau da liegt das Problem.
Es ist nötig, dass wir nicht nur nicht-rassistisch sind. Wir müssen anti-rassistisch sein.
Wir brauchen eine Mehrheit, die aktiv und bewusst gegen Rassismus eintritt, im eigenen Denken und Verhalten genauso wie in Gesellschaft und Politik. Ansonsten schwimmen wir mit, machen keinen Unterschied. Wir werden stille Zeug*innen und machen uns damit mitschuldig an rassistischen Verbrechen Anderer. Das Gleiche gilt auch für Sexismus, Faschismus und eben auch für die Klimakrise.
„Dein Schweigen schützt dich nicht“ sagt Aktivistin und Poetin Stefanie-Lahya Aukongo in einem ihrer Gedichte. Wenn schweigen heißt, Hilfe nicht zu leisten, wo sie notwendig wäre, dann ist dieses Schweigen ein Vergehen. Es ist unterlassene Hilfeleistung – und damit, rechtlich gesehen, eine Straftat. Wenn das so ist, dann sind viele kriminell.
Es ist schön, wenn Menschen über Gerechtigkeit reden und eine bessere Welt nachdenken. Aber solange sie sich damit nicht aktiv in die Welt stellen, können sie nicht Teil sein dieser besseren Welt. Sie bleiben stattdessen Teil einer zähen Masse, die die Zahnräder des Wandels verklebt.
Außerdem- Hilfeleistung passiert, weil wir helfen wollen. Und ich bin überzeugt, dass fast alle Menschen Teil einer gerechteren Welt sein wollen, sie wollen helfen, unterstützen.
Den Grund dafür, dass viele nicht ihren Werten entsprechend handeln, sehe ich in unserer Kultur und Gesellschaft.
Unsere Zeit ist geprägt von Leistungsdruck und einer perfiden Definition von Erfolg und Fortschritt. Zudem driftet unsere Merk- und Wirkwelt immer weiter auseinander: Wir sehen die Auswirkungen unseres Handels auf dieser Erde nur in einem sehr kleinen Ausschnitt, unsere Merkwelt ist klein. Das Ausmaß, in dem unsere Entscheidungen aber in dieser globalisierten und digitalisierten Welt wirken, ist riesig. Unsere Wirkwelt ist so groß und komplex, dass wir überhaupt nicht mehr die Kapazität haben völlig zu verstehen, welche Rolle wir in diesem Ganzen spielen, was wir unterstützen, wie weit unsere Verantwortung geht.
„How could you be a witness to the end and then not act?“ [Meine Übersetzung: Wie kannst du Zeug*in des Untergangs sein und dann nicht handeln?] fragt Xiuhtezcatl, Hip Hop Artist und Aktivist passend dazu.
Ja wie?
Dein Schweigen, dein Nichthandeln schützt dich nicht. Nein, es macht dich sogar schuldig.
Keine Hoffnung und privilegierte Verantwortungslosigkeit
Es geht darum zu fragen, was wirklich zählt. Künftig wird zählen, wer auf welcher Seite der Geschichte stand. Zoomen wir aus dem Jetzt heraus und richten stattdessen den Blick aus der Zukunft in die Gegenwart. Hast du am Wandel by design mitgearbeitet? Oder hast du den Wandel by desaster passieren lassen?
Es geht um Privilegien. Privilegien, die wir in Mitteleuropa alle mehr oder weniger haben, sind Zufall, bedeuten aber immer Verantwortung. Jetzt zu sagen, es gebe sowieso keine Hoffnung mehr, ist ignorant und verantwortungslos. Es ist privilegierte Verantwortungslosigkeit denjenigen gegenüber, die ihre Existenzgrundlagen durch Dürren, Stürme und Plagen verlieren.
Es ist einfach hier zu sitzen, davon in den Nachrichten zu hören und zu urteilen, die Welt sei sowieso nicht mehr zu retten. Denn der eigene Arsch sitzt ja noch ganz angenehm am Pool.
Aktiv sein beginnt in dem Moment, in dem wir uns trauen, dieser Haltung zu widersprechen: Doch. Einiges ist noch zu retten. Zumindest den Versuch schulden wir allen, die nicht so privilegiert leben dürfen. Denn in existenziellen Krisensituationen, in denen es Überleben oder Sterben heißt, gibt es nur einen menschlichen Weg: Die Hoffnung auf und der Kampf um Leben.
Es gibt so vieles, wofür es sich zu kämpfen lohnt
Zugegeben: Dieser Aktivismus hört sich bisher nach einer ziemlich ernsten, verpflichtenden, freudlosen Sache an. Aber hold on, da kommt noch was.
Es gibt so vieles, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Diese Welt ist wunderschön. Sie ist voller Wunder, in der Natur, in uns Menschen, in dem, was erschaffen wird und wurde. Sie ist gefüllt mit liebens-werten Objekten, Orten, Ideen, Individuen. Und was wir lieben, das wollen wir beschützen, erhalten und wachsen sehen. Das mag für jede*n von uns etwas anderes sein, festzuhalten ist nur: Es gibt genug zu lieben, für jede*n Einzelne*n von uns.
Aktivismus wirkt nicht nur nach außen. Er verändert die Aktivistin und den Aktivisten selbst. Stichworte: Empowerment, Selbstwirksamkeit und Potenzialwerkstatt. Wir können uns und unsere Stärken in aktivistische Projekte einbringen, diese durch die Mitarbeit an ihnen fördern und damit noch Gutes zu tun.
Wir leben in einer Zeit, in der Sinn oft vergraben ist unter Geld, Likes und einer ungesunden Definition von Erfolg. Wo können wir etwas finden, das uns wirklich erfüllt?
– Ich habe unheimlich viel Erfüllung im Aktivismus gefunden. Weil ich mich direkt einbringen kann, Veränderung sehen, Veränderung machen, und dies mit Menschen, die von einer gesünderen Welt träumen – so wie ich. Diese Art von Empowerment bleibt nicht auf Demonstrationen und im Gruppenplenum. Diese Art von Empowerment zieht sich durch das ganz eigene Leben und in die Tiefe der Persönlichkeit und zeigt plötzlich: Du bist nicht einfach nur eine*r von vielen. Du bist wichtig und du kannst verändern.
Aktivismus kann uns auf den Weg bringen, souveräne und befähigte Subjekte in einer komplexen Gesellschaft zu werden.
Raum für Empowerment und Sinn
Es ist magisch zu sehen, was Verantwortung und Sinn mit Menschen macht. Wie sie diese Begriffe mit Leben und Begeisterung füllen und über sich hinaus wachsen. Ich habe in meiner Gruppe Menschen kennengelernt, die sich anfangs kaum trauten in einem Plenum zu sprechen – und nach einigen Monaten Aktivismus Demonstrationen mit zehntausenden Teilnehmenden moderierten und selbstbewusst in der Bundespressekonferenz sprachen.
Kunst und Können dieser Menschen wurde – ohne, dass sie das selbst erwartet hätten – plötzlich gesellschafts- und wandelrelevant.
Ja, ich sehe (progressives) gesellschaftliches Aktivwerden und politische Organisation – auf welcher Ebene und in welcher Form auch immer – als moralische Pflicht an. Aber das heißt nicht, dass sie ernst und schwermütig sein muss. Sie ist auch Freiraum und Chance.In einem Webinar sagt Klimaaktivistin Vanessa Nakate aus Uganda „There is no excuse for not being a solution to this world“ und „You cannot die without changing someones life. So might as well change yours today.“ [Meine Übersetzung: „Es gibt keine Ausrede nicht eine Lösung für diese Welt zu sein.“ und „Du kannst nicht sterben ohne das Leben von Irgendwem verändert zu haben, also verändere doch gleich deines heute.“]
Also los!
Auf die Straße, an die Tasten, ins Designprogramm, hinter die Kameralinse, zur Müllsammelaktion, auf die Blockade, ins Gespräch. Es gibt so viel zu tun. Und für deine Fähigkeiten, deine Zeit, deine Energie ist ganz sicher etwas Entscheidendes dabei.
Die Uhr steht 100 Sekunden vor zwölf und es ist noch nicht zu spät.
Die bessere Welt scheint fern, aber sie ist möglich.
„Wie war es, so kurz vor dem fast-Untergang zu leben?“ – werden vielleicht (hoffentlich!) irgendwann einmal Kinder ihre Großeltern fragen.
– Und auf diese Frage will ich antworten können: „Es waren verrückte Zeiten. Aber wir haben nicht aufgehört an eine bessere Welt zu glauben und für sie zu kämpfen.“