Aus der Netflix-Watchlist einer queeren Klimaaktivistin


Nehmen wir uns alle Zeit der Welt, um anzusehen, was wir wollen.

Es ist dunkel vor dem Fenster, warm im Wohnzimmer, ich sitze eingekuschelt auf dem Sofa, mein Finger zögert über dem Touchpad – weitergucken oder aufhören? Mal überlegen. Es ist Winter da draußen, es ist etwas über der Mitte des zweiten Lockdowns (hoffe ich zumindest) und nach zwanzig Uhr, also kann ich sowieso nicht mehr vor die Tür. Außerdem: Minimale soziale Kontrolle, weil ich alleine in der WG bin. Nicht mal meine Nachbarin ist da. Ich klicke auf den Button für die nächste Folge. Zum vierten Mal heute.

Serien gucken, das ist schlecht. Das ist Zeitverschwendung. Ganz zu schweigen von einem Serienmarathon, also dem Schauen einer ganzen Serie in ein, zwei, maximal drei Tagen, das ist eine moderne Leistungsverweigerungs-Sünde. Was könnte ich alles mit der Zeit anfangen? Ich könnte einen Text für die Uni lesen, vielleicht sogar zwei, eine aufgezeichnete Vorlesung ansehen (ach was, in all der Zeit sogar mehrere – wenn ich auf 1,6-fache Geschwindigkeit schalte, könnte ich vielleicht sogar das ganze Semester nacharbeiten). Oder ich könnte E-Mails schreiben. Ich könnte eine Freundin anrufen. Einen Artikel schreiben. Yoga machen. Die Möglichkeiten, die mir meine eigene Wohnung bietet, sind schier unendlich – aber ich entscheide mich für die Serie.

Meine Augen haben noch nicht die Form meines Laptops angenommen

Ich habe gelernt, dass Fernsehen nicht grundsätzlich, aber schon eher schlecht ist. Ich habe sogar ein Kinderbuch über Edgar mit den viereckigen Augen gelesen. Es ging um einen kleinen Jungen, der den ganzen Tag nichts anderes tun wollte als fernzusehen. Davon bekam er schließlich viereckige Augen – alles, was er ansah, war ebenfalls eckig. Sogar seine Tränen sahen auf den Illustrationen aus wie kleine Quadrate (damals waren Fernseher noch quadratisch, und zwar in alle Richtungen).

Aber mal ganz ehrlich, steile These: Das ist doch einfach Bullshit. Zumindest, dass ich jetzt als erwachsene Person immer noch an Edgar denke, wenn ich das Fernsehen des fortgeschrittenen 21. Jahrhunderts schaue. Kindern einen kritischen Umgang mit digitalen Medien beizubringen ist sicherlich sinnvoll (obwohl mir die Story von den viereckigen Augen damals echt Angst gemacht hat). Edgars Augen werden wieder normal, als er mit seinem Vater anfängt, auf dem Spielplatz zu spielen, anstatt vor dem Fernseher zu hocken. Schließlich gehe ich ganz von allein jeden Tag raus, Chronobiolog*innen empfehlen es für die Zeit des Lockdown, mache gute Erfahrungen damit. Allerdings hat sich dadurch noch nie die Form meiner Augen verändert.

Wenn ich mich so einmal alle zwei Monate gepflegt mit einem Kakao oder Malzkaffee ein paar Stunden aufs Sofa fläze und eine Serie von vorne bis hinten an einem Stück anschaue, geht es mir in der Regel danach richtig gut. Einerseits, weil es sich ein bisschen nach passivem Widerstand anfühlt, wie ich einfach so, kackdreist, dem System meine Arbeitskraft entziehe (wobei es sich für Studierende in der Coronakrise sowieso wenig engagiert). Andererseits, weil ich gute Serien ansehe.

Mit Netflix in den Widerstand

Kleine Kostprobe: „Liebe und Anarchie“. Wer „Toni Erdmann“ gesehen hat: Es ist ein bisschen so, nur besser, ohne die Fremdscham. Sofie ist Ende 30, sie hat zwei Kinder, ein langweiliges, millenial-spießiges Familien- und Berufsleben, ab und zu wird es ein bisschen kinky mit ihrem Mann. Dann fängt sie einen neuen Job an, bei einem Verlag, und als Zuschauerin denkt man „Oh je, ein Verlag, was könnte vertrockneter sein, außer vielleicht eine Leihbibliothek oder ein Antiquariat“. Ist er aber gar nicht, es wird sehr aufregend beim Verlag. Sie soll ihn digitalisieren. Stattdessen fängt sie damit an, mehr zu werden wie ihr Vater, der ein bisschen durchgeknallt, aber vor allem glühender Antikapitalist ist (Repräsentation ist einfach so wichtig): Sofie geht eine Wette mit Max, dem mittezwanzigjährigen IT-Techniker, ein, aus der sich ein Spiel entwickelt, bei dem es darum geht, Verhaltensnormen herauszufordern. Sofie läuft den ganzen Tag rückwärts, kleidet sich wie eine Sängerin der 90er Jahre und verlässt fauchend einen Whirlpool, urkomisch.

„Liebe und Anarchie“ ist einfach nur großartig. Ich weiß sowas, schreibt man nicht in Rezensionen, aber das hier ist auch ja nur ein Blog, da gehört’s sich etwas platt. Es geht tatsächlich um Anarchie, Anarchie in Beziehungen und genau da fängt sie ja auch an, theoretisch betrachtet. Die Serie ist eine Erinnerung an die gesunde Dosis Abgedrehtheit in einer Welt, die alles in Zahlen ausdrückt und, in der Gefühle behandelbar sind, so gut, dass man es mit der richtigen Therapie vielleicht sogar schaffen kann, sie ganz auszuschalten.

In der ersten oder zweiten Folge sieht man Sofie „Brave New World“ von Aldous Huxley lesen; „Liebe und Anarchie“ übt eine ähnliche Kritik der Gegenwart, nur subtiler und vor allem: optimistischer. Alle, die das dumpfe Gefühl haben, da stimmt etwas nicht mit dem Spätzeit-Kapitalismus, sollten diese Serie schauen, um sich an den Widerstand gegen die abgefuckten Nuancen des Alltags zu trauen.

Wir sollten uns nicht erzählen lassen, dass das Vergnügen nach der Arbeit kommt, der frühe Vogel den Wurm fängt und es ohne Fleiß keinen Preis gibt. Ich bin mir sicher, wir wuppen unsere Leben auch ohne abgedroschene Phrasen, die gefundenes Fressen für die innere Kapitalistin sind und die wir dann hinterher weg-meditieren müssen, um uns wieder zufriedener zu fühlen. Meine Erlaubnis habt ihr: Gebt euch Netflix, Fernsehen, YouTube, Mediatheken! Da gibt es gute Filme und Serien, die die Augen ganz sicher nicht viereckig machen, aber vielleicht eure Sicht auf die Welt verändern – eigentlich ganz ähnlich, wie ein gutes Buch das tut.

Weitere gute Serien und Filme für das Ausleben eures Rechts auf Faulheit:

Atypical (Serie, Netflix)

Dear White People (Serie, Netflix)

Babylon Berlin (Serie, ARD Mediathek)

Sex Education (Serie, Netflix)

Unorthodox (Serie, Netflix)

Eine Hochzeit mit Folgen (Mini-Serie, arte-Mediathek)

Rafiki (Film)

Portrait einer jungen Frau in Flammen (Film)

Futur Drei (Film)

Bohemian Rhapsody (Film)

Hannah Gadsby, Nanette (Comedy, Netflix)

Viel Spaß!