Beziehungsanarchie


Schluss machen mit dem Patriarchat – ein Abschied von der großen Liebe?

TW: Heteronormativität

„Na, wie gehts mit den Männern/Frauen?“  „Die Arme ist immer noch Single.“ „Wann gründest du eine Familie? Zieht ihr zusammen?““Ist er*sie*they*x deine eine große Liebe?“

Wer hat diese Sätze nicht schon gefühlt tausendmal von Familie, Verwandten und sogar fremden Menschen auf der Straße gehört? In diesem Artikel werde ich einen knappen Überblick über die Themen Hetero-Patriarchat damals und heute und die Prinzipien der Beziehungsanarchie geben. Dieser Beitrag ist keineswegs vollständig und eher eine Zwischenstation meines Reflexionsprozesses zu Beziehungen und Identität. Zu meiner Positionierung: Ich bin weiß, able bodied und glaube auf dem Spektrum „Frau“ verortet.

Ich denke wir alle kennen es: Sehr oft wird automatisch davon ausgegangen, dass mensch auf jeden Fall heterosexuell ist und außerdem nur glücklich in einer monogamen Partner*innenschaft werden kann, die überdies in einer Hierarchie über allen anderen Beziehungen wie Freundschaften steht. Und es wird meistens angenommen, dass mensch bestimmt später mal (oder jetzt sofort, je nach Alter) Kinder bekommen, eine (Klein-)Familie gründen und zusammen wohnen möchte mit dem*der Partner*in. Das gilt dann als „glücklich sein“.

Ich möchte niemandem absprechen, mit diesem Konzept glücklich zu sein. Wenn du das bist – gerne, ich freue mich für dich. Doch warum gilt das der eine richtige Weg, dem die wahre Liebe folgen muss? Und werden alle Menschen so glücklich? Woher kommt das Konzept der monogamen, heterosexuellen Ehe überhaupt?

Die Ehe – ein Gefängnis des Hetero-Patriarchats Seit ich vor ein paar Jahren angefangen habe, mich mit hetero-patriarchalen Strukturen in romantisch-sexuellen Beziehungen zu beschäftigen, sehe ich diese überall. Und seitdem bin ich auf der Suche nach anderen Formen, nach freieren Formen, nach unkonventionellen Formen des Liebens und Lebens. Durch das Lesen von Caroline Wiedemanns Buch „Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats“ habe ich viele neue Perspektiven auf meine Fragen bekommen.

Ich habe gelernt: Die heterosexuelle, monogame Ehe ist ein patriarchales Konstrukt, welches gesellschaftlich mit der Sesshaftigkeit und dem Eigentum aufkam, damit Ehemänner sich sicher sein konnten, dass der Erbe wirklich das eigene Kind war. Denn der Besitz sollte in der Familie bleiben. Bald wurden alle Beziehungen, welche sich außerhalb des Konstrukts der hetero-monogamen Ehe einordnen ließen, als unzüchtig und unzivilisiert bezeichnet. So wurde die Ehe und die binäre Geschlechteridentität (Mann/Frau) in der Kolonialzeit als Zeichen der „Zivilisiertheit“ eingeführt und alles außerhalb dieses Regelwerks entwertet und unter Strafe stellt. (Mehr dazu.) Wir sehen: Diese (Liebes-) Ordnung muss hinterfragt und aufgearbeitet werden. Doch warum haben sich die monogame Heteroehe und das binäre Geschlechtersystem bis heute so gefestigt, ob wohl wir uns für so „befreit“ und „modern“ halten? Kurz und vereinfacht gesagt: Der Kapitalismus ist schuld. Wenn der Mann Vollzeit die gesellschaftlich höher gewertete Produktionsarbeit macht und den ganzen Tag in der kalten Welt des Wettbewerbs verbringt, so braucht er am Abend den warmen Herd der Liebe. Den findet er natürlich bei der Frau, die sich um die Kinder kümmert, kocht, putzt und ihm sexuell und romantisch treu bleibt, obwohl sie die ganze unbezahlte Care-Arbeit macht. Und das wird als selbstverständlich und „das Glück“ gesehen. Nur dass Frau heute nur als emanzipiert gilt, wenn sie sich auch noch den Arsch aufreißt und arbeiten geht, zusätzlich zur ganzen unbezahlten und oft auch ungesehenen Care-Arbeit. Oder diese Arbeit von rassifizierten Personen für unglaublich wenig Geld verrichten lässt.

Die romantisch-sexuelle Zweierbeziehung ist ein Ort geworden, an dem alle Bedürfnisse nach Sicherheit, Nähe, evtl. Sexualität, Wertschätzung erfüllt werden sollen. Dochich denke, damit ist diese Art von monogamer, romantischer Beziehung überfordert. Warum darf ich nur eine Person lieben? Ich leibe doch auch alle meine Freund*innen gleichzeitig. Und warum steht diese eine Art von sexuell-romantisch inszenierter Liebe in der Hierarchie über platonischen Beziehungen, Freundschaften? Und das in einer neoliberalen, kalten Zeit, in der wir so sehr auf viel zwischenmenschliche Wärme angewiesen sind?

Das kann doch nicht alles sein?

Warum ist der Relationship Escalator der Weg, dem die eine „wahre Liebe“ folgen muss? Und werden alle Menschen so glücklich? Warum diese Beziehungsform heute so präsent ist, haben wir nun im vorigen Absatz systemisch erklärt. Außerdem wird dieses Bild der romantischen Hetero-Liebe ständig in der Pop-Kultur verifiziert und damit gefestigt. Sei ehrlich zu dir: Welche Beziehungsform, welche sexuelle Orientierung bezeichnest du als „normal“? Wenn du jetzt verwirrt die Stirn runzelst: Glückwunsch, da hast du wohl schon einiges dekonstruiert… Denn das Bild der monogamen Hetero-Liebe ist als das erstrebenswerte Ideal ganz schön fest in unserem Denken verankert. Und an dieser Stelle möchte ich wiederholen: Wenn du in einer monogamen Hetero-Beziehung bist und dich das glücklich macht, möchte ich dir das gar nicht streitig machen. Mir geht es nicht darum, eine „Gegen-Norm“ aufzumachen und als „eigentlich natürlich“ zu bezeichnen.

Es geht mir vor allem darum zu hinterfragen, warum das Eine als normal gilt, und das Andere als „unnatürlich“, warum der Fokus sich im Leben so sehr auf diese eine Beziehung richtet. Warum kann ich nicht mit den Menschen die ich auf unterschiedlichen Ebenen liebe, besprechen, wie diese Beziehungen aussehen sollen, ohne an feste gesellschaftliche Vorstellungen von Richtig und Falsch gebunden zu sein?In der letzten Zeit bin ich immer wieder auf die Beziehungsanarchie gestoßen, und so sehr ich feste Konzepte für mich doof finde (denn Liebe, Sexualität und Identität sind nach meiner bisherigen Erfahrung fluide und immer im Prozess) habe ich in der Beziehungsanarchie einige Ideen gefunden, die mir Orientierung und Inspiration geben. Vielleicht kannst du auch etwas damit anfangen.

Die Beziehungsanarchie

Die Beziehungsanarchie geht davon aus, dass Menschen erstens mehrere romantisch-sexuelle Partner*innenschaften zugleich haben können (aber nicht müssen), und dass zweitens Liebe sich nicht auf eine Beziehungsform begrenzen lässt. Daraus ergibt sich, dass Beziehungen sich nicht hierarchisieren lassen. Der Fokus im Leben liegt dann nicht auf dem Finden der „einen großen Liebe“, ohne die wir nicht glücklich sein können. Denn wir können in allen Beziehungen etwas Einzigartiges finden, ohne dass diese festen Regeln (wie dem Relationship Escalator) folgen. Im Verständnis der Beziehungsanarchie ist jede Beziehung im Prozess, ihre Gestaltung wird immer wieder gemeinsam mit Konsens (gegenseitiges, freies Einverständnis) besprochen. So steht plötzlich nicht mehr fest, mit wem ich mein Leben lang zusammenwohnen soll oder mit wem ich Kinder bekomme. Ich kann zum Beispiel mit einer Wohngemeinschaft ein Kind großziehen ohne einen festen (Ehe)Partner, ich kann mit Freund*innen Kinder zeugen ohne eine romantisch-sexuelle Partner*innenschaft mit ihnen zu führen. Es wird sehr viel denkbar, was Halt und Wärme im Leben geben kann.

Und weil ich die Beziehungsanarchie spannend finde und glaube, dass unkonventionelle, hierarchieärmere Arten des Liebens ein wichtiger Teil eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses sein können, möchte ich euch Teile aus dem Manifest für Beziehungsanarchie von Andie Nordgren vorstellen. (Ich habe das Manifest frei übersetzt und gekürzt. Das Original findest du hier)

1. Liebe gibt es reichlich und jede Beziehung ist einzigartig.

Beziehungsanarchie stellt die Behauptung infrage, dass Liebe eine begrenzte Ressource ist, die nur in einer Paarbeziehung gelebt werden kann. Du kannst auch zugleich deine Freund*innen lieben und deine Familie ohne, dass die Liebe knapp wird. Warum nennen wir eine Beziehung „Primär-Beziehung“ anstatt alle Beziehungen als unvergleichlich, individuell und gleichwertig zu betrachten?

2. Liebe und Respekt statt Anspruch

Die Entscheidung, dass eine Beziehung nicht auf Anspruch basiert, zeigt Respekt vor der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung des Anderen. Die gemeinsame Geschichte lässt keine Schlüsse über den Anspruch, zu den ich über andere Personen habe. Liebe wird nicht realer, wenn die Beteiligten ihre Grenzen und Glauben zurückstellen, weil das von einer Beziehung erwartet wird.

3. Finde deine Grundwerte in Beziehungen

Was sind deine Grenzen und Erwartungen in Beziehungen? Wie möchtest du behandelt werden? Welche Menschen und möchtest du um dich haben und wie sollen deine Beziehungen gestaltet sein?

4. Heterosexismus ist zügellos und real, lass dich nicht von Angst leiten

Vergiss nicht, dass ein mächtiges, normatives System vorgibt, was „wahre Liebe“ ist, und wie mensch leben soll. Suche dir Verbündete.

5. Bereite dich für das Schöne, Unerwartete vor

Lass dich von dem leiten, was du willst, nicht was du denkst zu sollen.

6. Schreibe deine Richtlinien

Manchmal ist es ganz schön anstrengend, sich außerhalb von Normen und Regeln zu bewegen. Hier hilft es, sich in inspirierten Momenten zu überlegen, wie mensch lieben und leben möchte, und sich daraus einfache Richtlinien zu schreiben, an denen du dich in wirren Phasen orientieren kannst.

7. Vertrauen ist besser

Wenn du deinen Partner*innen vertraust, dass sie dich nicht verletzen wollen, brauchst du nicht ständig die Bestätigung, dass ihr in einer Beziehung seid. Manchmal stecken Menschen so sehr in ihren eigenen Problemen, dass sie keine Kraft haben, sich um andere zu kümmern. Gib den anderen Chancen sich zu erklären, vergib ihnen, ohne deine eigenen Grenzen zu überschreiten.

8. Verändere durch Kommunikation

Die Welt ist voller Normen und Regeln. Wenn du deine Beziehungen unabhängig davon gestalten willst, braucht es viel (Herzens-)Kommunikation, und das nicht nur in Krisen, sondern regelmäßig. Also frag nach, frag explizit!

9. Passe deine Zusagen an

Das Leben verlangt in unterschiedlichen Situationen andere Verpflichtungen. Beziehungsanarchie heißt nicht, dass es keine Zusagen/Verbindlichkeiten gibt, sondern dass diese von den Beteiligten selbst gestaltet sind und nicht von soziokulturell vorgeschriebenen Vorstellungen und Normen.

Feedback?

Ich freue mich, dass du bis hier gelesen hast. Ich freue mich über Feedback, Ergänzungen etc. und bin weiter am Lernen und Üben. Und vergiss nicht: Das alles ist kein Wettrennen, sondern individuell, gestaltbar und im Prozess. Und Scheitern gehört dazu. (Daran darf ich mich selbst auch hin und wieder erinnern…)