Unser Bildungssystem – Teil einer gesellschaftlichen Einbahnstraße
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Unser Bildungssystem ist inkompatibel für unsere Zeit
Viele Schüler*innen befinden sich im Moment im Abistress (gerade laufen die Abiturprüfungen), welcher als notwendig hingenommen wird, um ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu werden. Denn dieses Zeugnis bestimmt -zumindest im Unikontext- unsere Zukunft. Doch viele halten dem Leistungsdruck nicht stand. Sie brechen die Schule oder das Studium ab. Das System von Konkurrenz um die besseren Noten, von erzwungener Konformität und Lernbulimie bleibt aber weiter bestehen. Oft unhinterfragt. Im Gespräch mit einer Schülerin zeigte sich, dass sie die Schuld für das scheinbare „Versagen“ in der Schule bei sich selbst suchte. „Ich habe wohl einfach nicht genug Disziplin, um mich mit den anderen messen zu können“.
Ich finde es erschreckend, dass wir in der Schule darauf trainiert werden, in Konkurrenz zueinander zu stehen, dass wir unseren Selbstwert daran festmachen, wie viel wir in Prüfungen an Inhalten ausspucken, um diese im nächsten Moment wieder zu vergessen. Wie bei einer solch diktatorischen Bildung mündige, demokratiefähige Bürger*innen erzogen werden sollen bleibt mir ein Rätsel.
Warum andere Inhalte allein nicht reichen
Im Moment lernen wir in der Schule, uns dem Willen des Lehrers, der Lehrerin zu fügen. Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, so erinnere ich mich an endlos scheinende Unterrichtsstunden, in denen ich mich in der letzten Reihe versteckte, um nicht aufgerufen zu werden. Dennoch kann ich sagen, dass ich mit meiner Schulzeit Glück hatte. Ich besuchte eine Waldorfschule, wo ich sehr viel Freiraum bekam, meine kreativen Fähigkeiten zu entfalten. Wir hatten verhältnismäßig wenig Prüfungen, welche nicht benotet wurden. So wurde ich erst mit dem Abitur mit Noten konfrontiert. In den Klausuren galt es ab sofort, Inhalte auszuspucken. Ich lernte Antworten auf Fragen, die ich selbst nicht gestellt hatte.
In Zeiten des Internet werden wir ständig bombardiert mit Informationen. Und davon bekommen wir in der Schule noch mehr. Der Historiker Dr. Yuval N. Harari prangert diesen Zustand in seinem Buch „21. Lektionen für das 21. Jahrhundert“ an und empfiehlt stattdessen: „Wir brauchen die Fähigkeit, mit dieser Informationsflut umzugehen, zu unterscheiden zwischen den wichtig und unwichtig […]“.[1] Zudem wissen wir nicht, was im 21. Jahrhundert wirklich relevant ist an Informationen. Denn: Die Welt verändert sich rasant und wir sind nicht nur konfrontiert mit der Klimakrise, sondern auch die Digitalisierung und die atomare Bedrohung stellen uns vor ungeahnte Herausforderungen. In einer solchen Zeit ist es in meinen Augen nicht sinnvoll, an unserem alten, verkrusteten Bildungssystem festzuhalten. Denn dieses basiert auf Konformität, passivem Bildungskonsum und Konkurrenz.
Was wir stattdessen brauchen
In einer sich transformierenden Welt braucht es selbstständige Menschen, die diesen Transformationsprozess gestalten können. Dabei sind Eigenschaften wie Kreativität, Selbstvertrauen und Kooperation gefragt. Doch wie können wir das lernen? Es ist elementar zu berücksichtigen, dass wir alle individuelle Lernbedürfnisse haben. So ist es ein wichtiger erster Schritt herauszufinden, wie du eigentlich lernen möchtest und was dich begeistert. Denn eigentlich lernen wir Menschen unser ganzes Leben lang, wobei sich das Lernen eben nicht auf auswendig gelernte, schnell vergessene Informationen beschränkt. Lernen heißt eigentlich Fähigkeitenbildung, Persönlichkeitsbildung und Selbstermächtigung. Diese Erfahrungen bleiben uns im aktuellen Bildungssystem verwehrt, da wir weder entscheiden wie, noch was wir lernen. Mal ganz abgesehen vom Warum.
Und das, obwohl sich Lehrer*innen meist Tag für Tag abmühen, die Lehrinhalte abzuarbeiten und unter dem mangelnden Interesse ihrer Schülerschaft leiden. So sind auch viele Lehrende die Leidtragenden im aktuellen Bildungssystem.
Da ich im Moment mit anderen jungen Menschen einen selbstbestimmten Studiengang aufbaue und mich sehr mit diesem Thema verbunden fühle, möchte ich gerne einige Worte zu unserem Bildungsprojekt erzählen:
Ich beschäftige mich im Moment viel mit „selbstbestimmter Bildung“. In einem Studiengang mit dem Titel „Philosophie und Gesellschaftgestaltung“ beschäftigen wir uns selbstbestimmt mit den Themen, die wir als im Moment wirklich relevant erachten. Das geschieht unter Anderem in Form eines Modulplans, den wir als Student*innen selbst gestalten.
Wir lernen im praktischen Aufbau unseres Vereins, wie wir zusammenarbeiten können und wollen. In den Philosophie-Modulen bearbeiten wir grundlegende Fragen des Menschseins und des Anthropozän. Eines der kommenden Seminare heißt zum Beispiel „Grundprobleme der Gegenwart“. Dafür haben wir eine Dozentin aus dem Konzeptwerk neue Ökonomie eingeladen, mit der wir über neue Formen des Wirtschaftens sprechen.
Zudem erarbeiten wir Bildungsformate, mit denen wir die selbstbestimmte Bildung bewegter gestalten können.
In der Zeit zwischen den Blockseminare arbeiten wir an individuellen Projekten. Hier kann ich in der Praxis lernen, was es heißt, Initiative zu ergreifen, Verantwortung zu übernehmen und mit anderen Menschen zusammen zu arbeiten.
Also eine selbstbestimmte Bildung?
Eine der wichtigsten Feststellungen bleibt: Wir lernen alle auf eine völlig individuelle Art und Weise. Der Auftrag an unsere Lehrer*innen sollte also sein: Lernräume ermöglichen. Denn dafür sind wir in der Schule oder in anderen Bildungseinrichtungen. Auch wollen alle Menschen -Schüler*innen wie Lehrende- auf Augenhöhe behandelt werden und ein Mitspracherecht in der Gestaltung der Lernräume haben. Denn wie sollen wir uns als demokratiefähige Menschen entwickeln, wenn wir in einer Bildungsdiktatur erzogen werden? In einer Zusammenarbeit innerhalb des Bildungskontextes sollten wir lernen, eigene Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam an einem Thema zu arbeiten. Denn: Notenkonkurrenzkampf, Bildungsdiktatur und Lernbulimie sind sowas von 20. Jahrhundert!
Quelle: [1] Dr. Yuval Noah Harari: 21. Lesosns for the 21st Century. London, 2018.