Ein Jahr nach der Räumung


Vor einem Jahr wurde im Dannenröder Wald geräumt. Eine Besetzerin erzählt, erinnert und teilt einen Versuch, das Erlebte einzuordnen.

Oktober bis Dezember 2020 wurde im Dannenröder Wald geräumt. Es ist ein Jahr vergangen, neue Orte und Kämpfe sind gekommen, und trotzdem bleibt so einiges. Eine Besetzerin erzählt, erinnert und teilt einen Versuch, das Erlebte einzuordnen.

TW: Polizeigewalt, Räumung

Es ist ein Jahr her, dass im Danni Bäume, Menschen, Versprechen fielen. Und doch gibt es Dinge, die mich immer noch erschrecken. Es ist ein Jahr her und ja, ich habe viel verarbeitet, wir waren viel füreinander da, andere Kämpfe und Orte sind gekommen, ich habe Out of Action geübt und viel geschrieben, geredet, geweint, Menschen umarmt und doch bleiben Verletzungen, doch bleibt das Entsetzen, das ich immer noch nicht einordnen kann manchmal. No water no cookies haben wir immer gesagt. Jetzt ist das Wasser salzig und die Kekse will ich trotzdem.

Ich denke an Ella. Ella wurde heute vor einem Jahr verhaftet (Ich schreibe dies am 26.11.21). Nach sechs Monaten Untersuchungshaft kam im Juni die Verurteilung zu zwei Jahren und drei Monaten Haft. Noch ein Jahr und drei Monate liegen vor ihr, liegen vor uns ohne sie, wenn nicht noch ein anderes Gericht anerkennt, dass das ein Abschreckungsurteil ist.

Das Schlimmste waren für mich aber nicht mal immer die ganz großen Dinge. Ich erinnere mich an die Abendstunden und die darauf folgenden, wenn es dunkel wurde – oder hätte sein sollen – und die Strahler der Schneise den Himmel erleuchteten. Ich erinnere mich an die Schreie der Kraniche, die verwirrt Runde um Runde im scheinbaren, nicht enden wollenden Tageslicht flogen. Irgendwann würden sie tot vom Himmel fallen, habe ich gehört. Zu erschöpft von dem endlosen Tag, dem endlosen Flug. Sie haben entschieden, dass es in und über einem Wald nicht mehr dunkel werden sollte und in Folge fallen nicht nur die Bäume, sondern auch die Vögel vom Himmel. Das war jeden Abend so.

Ich erinnere mich, wie einmal, auch bei Dämmerung, ein Mensch von einer Plattform an der Rodungsfront fiel. Es war ein Unfall und ein langer Räumungstag gewesen und der Mensch verletzt, wie schwer war noch nicht klar, aber es waren schon sieben Meter oder so gewesen. Der Rettungswagen brauchte viel zu lange, dachte ich, und irgendwann kam er doch, Menschen, die am Wege winkten, Scheinwerfer durch die milchige dunkle Novemberluft. Er brauchte viel zu lange, erfahre ich später, weil die Polizei ihn aufgehalten hatte und davon abgeraten, in den Wald zu fahren. Weil die Polizei dem gerufenen Rettungswagen davon abgeraten hatte, in den Wald zu fahren und einem wahrscheinlich schwerverletzten Menschen zu helfen. – Es gibt Dinge, die mich immer noch erschrecken. Dazu gehört, dass Polizist*innen Sanitäter*innen ernsthaft empfehlen, einem schwerverletzten Mensch nicht zu helfen, nachts, bei Minusgraden. Schön, dass sie Angst vor den Besetzer*innen haben, aber dass sie deswegen bei Nacht davon abraten, Menschenleben zu retten, potenziell sterben zu lassen, das entsetzt mich immer noch, immer wieder. Der Mensch hatte einige gebrochene Wirbel, erfahre ich später. Ein Glück, dass die Sanitäter*innen der Empfehlung der Polizei nicht nachkamen.

Ich erinnere mich, Kontakt mit einem Klettercop gehabt zu haben, von dem ich später herausfinde, dass er einen Mensch namens Elf im Hambi damals systematisch schikanierte.

Ich erinnere mich, dass wir die Rodungskante, die immer weiter vorrückte, die Front nannten, weil es sich wirklich so anfühlte, als seien wir im Krieg in den Bäumen.

Ich erinnere mich an späte Nächte am Lagerfeuer, in viel zu langen Plena mit viel zu erschöpften Gesichter, Augen, die schon seit Tagen zufallen und doch immer noch aufgehalten werden. Ich erinnere mich an die Nacht, bevor geräumt wurde und wie ein Mensch während des Plenums face down auf dem Boden lag und eingeschlafen ist, bei Minusgraden.

Ich erinnere mich an die Vorfälle von Polizisten, die auf Menschen urinierten, sie beleidigten, sich über sie lustig machten, sie willentlich verletzten oder degradierten. An sexualisierte Übergriffe auf FINTA*s in der GeSa, der Gefangenensammelstelle. Diese Sachen habe ich nur gehört, nicht miterlebt, aber es ist genug, dass überhaupt jemand von uns sie miterleben musste.

Die Protestform des Besetzens hat mich anders getroffen als andere. Ich habe lange darüber nachgedacht, wieso genau. Auch weil ich den Eindruck hatte, dass andere Menschen das so viel besser wegstecken als ich. Wahr ist, dass Menschen alle anders damit umgehen, aber dass wesentlich mehr Menschen als ich dachte, lange und tiefe Folgen mit sich tragen. Ich glaube, das ist, weil die Protestform so existenziell ist, weil es Protest mit und durch den Körper ist, nicht nur für einige Stunden in der Grube oder auf den Schienen, sondern über Monate hinweg. Es ist eine Protestform, die nahe geht, weil der Widerstand, den wir einsetzen, unser Leben ist. Sie würden die Bäume fällen, säßen wir nicht drin. Das einzige, was hier noch zählt, ist dass sie unser Leben noch respektieren – unser Wohlergehen nicht, oder zumindest begrenzt. Dass sie zumindest unser Leben meist respektieren ist natürlich im Vergleich zu vielen anderen Zuständen und Kämpfen immer noch ein Privileg. Trotzdem geht es nah, oder vielleicht gerade deswegen, weil andere Kämpfe zumindest ein wenig mehr fühlbar werden.

Ein weiterer Aspekt ist, das eigene Leben oder mindestens den eigenen Körper in die Hände von Menschen zu geben, die keine Ahnung haben oder mit höherer Wahrscheinlichkeit als der Durchschnitt der Bevölkerung rechtsextreme Ansichten. Menschen also, die nicht selten in der Räumung einer Waldbesetzung befangen sind und eigene Motivationen mitbringen. Als ich einmal in einem Polizeiauto saß, kam gerade im Radio eine Meldung, dass, mal wieder, Polizist*innen wegen rechtsextremer Ansichten suspendiert wurden. Wie ironisch in diesem Moment. SEKler, Polizisten des Spezialeinsatzkommandos – gendern ist hier, denke ich, kaum nötig – holen also die Menschen aus den Bäumen, Lock-ons, von Tripods, Skymonopods und was sonst so im Wald rumsteht – oder sie versuchen es zumindest. Dabei schneiden sie Seile durch, an denen Menschen hängen und sind verantwortlich für mehrer Schwerverletzte und Wirbelbrüche allein bei der Räumung im Danni.

Was zusätzlich Angst macht und besonders an einem Tag wie heute nahe kommt: Die Repression und dass eine falsche Fußbewegung, bei der niemand verletzt wurde, zu zwei Jahren und drei Monaten Haft führen kann, wie es bei Ella der Fall ist.

Und so sind der Danni zwar geräumt und die Fingerkuppen schon längst wieder zugeheilt, aber die Narben bleiben, tiefer. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird, bis ich bei Motorsägengeräuschen nicht immer wieder im Wald lande, an der Rodungskante. Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal so eine Bindung zu einer Besetzung aufbaue und ob ich dann besser damit umgehen kann. Ich weiß nicht, wie es Ella da im Gefängnis geht und all den anderen politischen Gefangenen. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch trauere und wenn ja, wie lange. Ich weiß nur, was ich erlebt habe und dass ich es wieder machen würde und wahrscheinlich auch werde. Und dass ganz viel auch unglaublich wunderbar war. Aber das ist eine andere Geschichte für ein anderes Mal.

Ich wache auf und höre

Motorsägen vor meinem Fenster

und plötzlich ist es

10 Grad kälter

und die Häuser werden zu

Bäumen

und die Füßgängerinnen zu

Polizisten

und ich bin nicht mehr

im 5. Stock sondern

im Baumhaus oder Skymono

und ich atme und atme

und versuche zu erinnern dass

Motorsägen nicht nur Tragodien

bedeuten.

(irgendwann Frühjahr 2021)