Hoch mit dem Humus! – Wir brauchen eine neue Agrarpolitik


Wie wir Lebensmittel herstellen können, ohne unsere Lebensgrundlage zu zerstören – die zentrale Frage in der Klimakrise. Ein Doppelinterview

Die meisten wissen das nicht, aber ohne Soja gäbe es keine Zivilisation. „Neben Mais, Reis und Weizen gehört Soja inzwischen zu den wichtigsten Nutzpflanzen überhaupt“, schreibt die Initiative Weltacker auf ihrer Homepage. Soja essen wir selten selbst, höchstens als Tofu oder Sojajoghurt. Der Löwenanteil wird verfüttert, beziehungsweise verschifft: von Südamerika oder Südostasien in die Ställe Nordamerikas und Europas. Nutztiere, die hier gehalten werden, fressen sehr viel Soja, damit sie schnell wachsen, viel Fleisch und Milch liefern. Dieses völlig ineffiziente und fragwürdige Vorgehen wird in der Fachsprache „Veredelung“ genannt.

Das ist zynisch, aber es ist systemimmanent – das heißt, nichts geht in der Lebensmittelbranche ohne solchen Strukturen.  Ganze Industrien und die globale Lebensmittelversorgung wären heute undenkbar ohne Soja. Wo soll mensch da anfangen, um diese Produktionskette nachhaltig umzugestalten – beim Verbot der Gentechnik? Beim Verbot von Pestiziden? Um es mit Greta Thunbergs Worten zu sagen [unsere Übersetzung]: „Wenn das System so unmöglich verändert werden kann, dann müssen wir vielleicht das System wechseln.“

Die Europäische Union (EU) wagt dieses Jahr dennoch einen Versuch. Trotz Corona ist der Green Deal ein Kernprojekt der EU in 2020. Ziel ist es, bis 2050 eine nachhaltige Wirtschaft aufzubauen, um der „erste klimaneutrale Kontinent“ zu werden. Dazu gehört eine neue Strategie für die europäische Landwirtschaft. Die Eckpunkte dafür sollen nächste Woche unter dem Namen „Farm to Fork-Strategie“ in Brüssel digital vorgestellt werden. Dieser Plan wird richtungsweisend für die Neugestaltung der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP), die ebenfalls dieses Jahr neu verhandelt wird. Die GAP regelt die Verteilung der Subventionen für Landwirt*innen in allen Mitgliedsländern der EU. Diese Gelder sind höchst klimarelevant.

Deshalb haben wir Willi und Gerald Wehde interviewt. Willi ist Sohn eines Landwirtes, studiert Agrarwissenschaften im Master und ist politisch aktiv bei Fridays For Future und den Falken. Gerald Wehde ist der Leiter der Agrarpolitik bei Bioland e. V.

Druck!-Magazin: Den Green Deal könnte man doch eigentlich für ein vorbildliches Projekt der EU halten. Trotzdem sind die Erwartungen an den Vorschlag für eine Farm to Fork-Strategie, der zum europäischen Green Deal gehört, gering. Was ist eure Haltung zur Farm to Fork-Strategie?

Gerald Wehde: Der Green Deal und die Farm to Fork-Strategie sind keine verbindlichen Gesetze. Handfeste Gesetzestexte sind aber genau, was wir brauchen, um der Klimakrise zu begegnen. Dennoch unterstützen wir, der Bioland-Verband, den Vorstoß mit dem Green Deal und finden es wichtig, dass die Vorlage zur Farm to Fork-Strategie schnell verabschiedet wird. Dann kann sie in die Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP) einfließen und die Richtung vorgeben. Die EU-Kommission schärft damit die Zielmarken für die GAP im Sinne des Klima-, Umwelt- und Naturschutzes.

Willi: Ich halte den Green Deal nicht für ein vorbildliches Projekt. Wir sind kurz davor die ersten Kipppunkte zu erreichen und in Deutschland bahnt sich die dritte Dürre in Folge an – da ist es einfach zu spät, 2050 klimaneutral sein zu wollen. Wenn man sich ansieht, was die EU sich zum Beispiel im Bereich der Industrie für den Green Deal überlegt hat, konzentriert man sich scheinbar oft darauf, technische Lösungen zu entwickeln. Es geht darum, im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, vor allem gegen China. Klima ist hier nur das Narrativ und das Mittel, um eine neue Industriepolitik durchzusetzen. Ich habe Angst, dass das bei der Farm to Fork-Strategie genauso sein wird.

Druck!-Magazin: Was bedeutet es fürs Klima, wenn wir weiterhin so Landwirtschaft machen wie jetzt gerade? Was läuft schief?

Wehde: Dann erreichen wir die Klimaziele nicht, ganz einfach. Denn der Agrarsektor trägt erheblich zum Klimaproblem bei, vor allem bei der Nutztierhaltung: Allein die Ausstöße aus der Tierhaltung machen – einschließlich der Futterproduktion – rund 70 Prozent aller Emissionen der Landwirtschaft aus. Wir müssen weniger Tiere halten, vor allem in den Hot Spots der Massentierhaltung. Außerdem fordert Bioland, dass nicht mehr so viel Stickstoff als Dünger aufs Feld gebracht wird: Wir könnten knapp 5 Millionen Tonnen CO2 einsparen, wenn wir die Stickstoffüberschüsse um die Hälfte senken würden. Weil Stickstoffdünger oft die Gülle von Tieren ist, hat das auch wieder mit der Tierhaltung zu tun. Wir brauchen eine Stickstoffabgabe und mehr Ökolandbau, bei den Tieren müssen wir sagen: „Klasse statt Masse“. Deshalb ist es jetzt ganz wichtig, alle Hebel bei der Neugestaltung der GAP auf EU-Ebene in Bewegung zu setzen.

Willi: Landwirtschaft insgesamt ist für 25 Prozent der Treibhausgasemissionen weltweit verantwortlich. Durch steigende Temperaturen und eine Verschiebung von Rossby-Wellen [Anm. d. Redaktion: Rossby-Wellen sind kalte und warme Winde, die um den Nordpol herum entstehen und uns in Europa, Asien und Nordamerika Hochs und Tiefs bescheren.] entstehen vermehrt Dürren. Außerdem haben wir mehr Extremwetter. Das zusammen macht es für Landwirt*innen schwieriger zu arbeiten. Ein anderes Problem ist der Konsum von Fleisch und von Fertiggerichten. Es gibt mehr als zwei Milliarden Menschen mit Übergewicht auf der Welt! Diese Einfalt in der Küche führt zu Einfalt auf den Feldern. Ich kann das hier nur grob anreißen und keine ganz klare Antwort geben, aber zugespitzt kann man sagen: Die Klimakrise hat sehr viel damit zu tun, wie wir unsere Lebensmittel herstellen. Konsummuster, Übergewicht, Kapitalvermehrung und Umweltzerstörungen hängen komplex zusammen mit der industrialisierten Landwirtschaft – das ist eine gefährliche Situation.

Druck!-Magazin: Letztes Jahr habe ich mich mal intensiv mit dem Problem einer klimagerechten Landwirtschaft beschäftigt und dazu mit einigen Agrar- und Wirtschaftswissenschaftler*innen gesprochen. Die meinten alle: Agrarwende geht nur, wenn es eine Konsumwende gibt. Das ist verwirrend. Die „Wahl an der Supermarktkasse“ ist doch eigentlich eine Illusion – wir fordern ja nicht ohne Grund, dass die Verantwortung für die Klimawende nicht auf den Schultern von Einzelnen lastet. Wo seht Ihr die Rolle der Konsument*innen in der Umstellung auf klimagerechte Landwirtschaft, wo die der Politik?

Wehde: Verbraucher*innen haben mit ihrem Konsumverhalten tatsächlich eine gewisse Macht: mehr pflanzliche Lebensmittel, weniger Fleisch und Milchprodukte und dafür Bioprodukte, das wäre eine gute Empfehlung. Und den Druck auf die politisch Verantwortlichen erhöhen – die vielen jungen Menschen zeigen uns bei den Fridays for Future-Demos ja gerade, wie das geht. Damit möchte ich die Politik keinesfalls von ihrer Verantwortung befreien. Es ist untragbar, dass die Bundesregierung sich weigert, den Umbau der Landwirtschaft und Tierhaltung endlich ernsthaft anzugehen. Wir brauchen Gesetze und Kontrollen, die ein hohes Tierschutzniveau für alle Tiere sicherstellen und eine Förderpolitik, die Landwirt*innen belohnt, wenn sie Tiere besonders artgerecht halten, die Umwelt schonen und für mehr Artenvielfalt auf Äckern und Wiesen sorgen.

Willi: Einerseits muss man in Bezug auf den durchschnittlichen Fleischkonsum von 60kg pro Jahr in Deutschland sagen: Diese Menge Fleisch lässt sich nicht ohne massive Umweltschäden produzieren! Gleichzeitig hat aber auch die Politik eine Verantwortung, die Bürger*innen aufzuklären. Dies ist aber nicht im Interesse von Big Food. Konsument*innensouveränität ist nicht einfach da. Sie muss durch kluge Politik erst hergestellt werden. Kein Mensch hat genug Zeit, die Umweltwirkungen seines Konsumverhaltens vollständig zu erfassen. Wenn Politiker*innen sagen, dass Konsument*innen sich beim Einkauf für die Umweltzerstörung entscheiden würden, lenken sie von ihrer eigenen Verantwortung ab. Wenn eine Konsumentin ein bestimmtes Produkt nicht kaufen würde, gäbe es das nicht. Das stimmt! Aber ohne, dass die Produzentin es herstellt, um Gewinn zu erzielen, gäbe es das Produkt auch nicht. Und ohne eine Landwirtschaftspolitik, die sich entscheidet, dass dessen Herstellung gefördert wird und die umweltfreundlichere Alternative nicht, gäbe es das Produkt auch nicht. So kann man sich wechselseitig die Schuld zu schieben, dann muss sich auch nichts verändern und das „Weiter so“ kann als Kompromiss ausgegeben werden.

Druck!-Magazin: Nach der Agrarwende: Wie sieht eine Landwirtschaft mit Zukunft aus? Was ist anders als, was ist noch genau wie heute?

Wehde: Der Ökolandbau muss sich endlich durchsetzen. Wir müssen lernen, respektvoll mit unseren Ressourcen umzugehen. Dafür gibt es drei Voraussetzungen: Erstens, dass wir Landwirt*innen mit der Gesellschaft ins Gespräch kommen und wir uns auf Augenhöhe begegnen – ohne eine dazwischengeschaltete Lebensmittelindustrie, die auf eigenen Profit ausgerichtet ist und Begehrlichkeiten nach immer billigeren Lebensmitteln weckt. Zweitens: Steuergelder für Subventionen aus der GAP müssen in Umwelt-, Klima- und Tierschutz fließen, statt an die zu gehen, die die meiste Fläche haben. So ist es aktuell und entfernt Verbraucher*innen und Landwirt*innen voneinander. Ein anderes System steigert die Wertschätzung der Kund*innen für die Produkte. Das erlaubt dann mehr Landwirt*innen, auf Ökolandbau umzustellen. Lebensmittel wertzuschätzen bedeutet aber auch, einen angemessenen Preis für sie zu bezahlen. Oder nicht mehr davon zu produzieren oder zu konsumieren, als für Umwelt und Klima gut ist – zum Beispiel Milch und Fleisch. Das ist die dritte Voraussetzung, die erfüllt werden muss. Wir brauchen mehr Vielfalt! Dann wird es nicht nur in den Kühlregalen, sondern auch in unseren Landschaften wieder anders aussehen.

Willi: Es ist einfach, sich eine Landwirtschaft mit Zukunft theoretisch zu überlegen. Unter den aktuellen Verwertungszwängen ist sie aber schwer zu machen: Wichtige, nachhaltige Maßnahmen können nicht zentral verordnet werden. Sie müssen regional gemeinsam mit den Landwirt*innen verhandelt werden. Landwirtschaft muss auch als eine Art „Handwerk“ betrachtet werden, die sich deshalb überall unterschiedlich entwickelt hat. Jede Region hat eine andere Herangehensweise für den Umgang mit den verschiedenen Böden und Witterungsverhältnissen. Diese praktische Intelligenz haben keine Beamten, sondern nur die Landwirt*innen selbst. Sie müssen deshalb zu selbst Akteur*innen für einen nachhaltigen Wandel werden! Auf dem Weg dahin müssen sie gefördert werden, damit jeder Hof eine eigene Strategie aufbauen kann. Zum Beispiel könnte die Politik Landwirt*innen Subventionen für den Humusaufbau zahlen – Humus ist organische Substanz im Boden und eine wichtige Kohlenstoffsenke. Das würde ich mir von einer neuen EU-Agrarstrategie erhoffen.

Druck!-Magazin: Was steht dieses Jahr noch an, das relevant ist für Klimakrise und Landwirtschaft?

Wehde: Am wichtigsten ist die Umgestaltung der GAP. Die sehr wahrscheinliche Trockenheit im dritten Jahr hintereinander erinnert uns daran, dass wir bei der Lösung der Klimakrise keinen Augenblick nachlassen dürfen. Aktuell werden Bäuer*innen, die mehr für die Umwelt und die Gesellschaft tun wollen, benachteiligt gegenüber den Betrieben, die Umweltschäden verursachen und auf Kosten aller vermeintlich günstiger wirtschaften dürfen. Statt 70 Prozent Pauschalzahlungen nach Fläche brauchen wir 70 Prozent der gesamten EU-Fördermittel für die Honorierung von freiwilligen Leistungen für den Umwelt-, Klima- und Tierschutz. Denn: Nicht was sich rechnet ist richtig. Sondern was richtig ist, muss sich rechnen.

Druck!-Magazin: Habe ich etwas Wichtiges vergessen, dass Du ergänzen möchtest?

Willi: Hoch mit dem Humus – runter mit der Kohle!

Am Samstag gibt Willi ein Webinar bei den Falken, in dem er genauer erklären wird, was gerade in der Landwirtschaft falsch läuft und warum sich so vieles ändern muss. Hier ist der Link zum Facebook-Event.