Ich bin nicht die Norm, aber für mich ist das normal


Bisexualität ist in unserer Kultur – auch in der Bewegungskultur der Klimaszene – ziemlich unsichtbar. Dieser Text ist ein Coming-Out. Und er ist mein Versuch eines Denkanstoßes für den Pride-Month.

Disclaimer: Was ich in diesem Artikel schreibe, ist, was ich aktuell fühle und denke. Bitte nagelt mich nicht darauf fest. Ich möchte Verständnis fördern, nicht Missverständnisse potenzieren.

Ich schließe meine Tür. Vorsichtshalber. Ich will mir jetzt Coming Out-Videos angucken und meine Mitbewohnerin soll das lieber nicht mitbekommen. Mein Zimmer ist nur zehn Quadratmeter groß, klein wie ein Schrank. Aber es hat ein Fenster an der Dachschräge, ich kann über die Häuser und Gärten bis zum Stuttgarter Flughafen gucken. Das mache ich auf, um Luft reinzulassen. Ein wenig Durchzug beruhigt mich immer. Schon jetzt bin ich ein bisschen aufgeregt und ich weiß, dass das jetzt nicht besser werden wird, wenn ich mir die Coming Out-Geschichten von Anderen anhöre.

„Wäre es nicht total blöd, jetzt zu sagen, dass ich bisexuell bin, wenn das dann vielleicht doch nicht stimmt?“, beginnt das Video, das ich mir angucke – und wumm, ich bin drin. Meine Gedanken galoppieren. Es wäre doch wirklich total blöd, zu sagen, dass ich was bin, was ich vielleicht gar nicht bin. Ein bisschen gelogen, wenn auch nicht absichtlich, ein bisschen zu viel Lärm um Nichts, auch wenn sich dieses Nichts gerade sehr wichtig anfühlt, ein bisschen zu kindisch, zu spätpubertär. Außerdem – eigentlich finde ich auch, das geht niemanden außer mir was an (und vielleicht noch Menschen, mit denen ich eine Partnerschaft eingehen könnte).

Ich höre nur der Hälfte des Videos zu. Danach hänge ich abgelenkt auf Twitter rum und abonniere queere Accounts. Dann gucke ich noch ein halbes Video, aber mache es aus, weil ich keine Geduld dafür aufbringen kann. Die Videos sind immer nur wie ein Anschalter für das Nachdenken, selten fühle ich mich mal so verstanden, dass ich wirklich dran bleibe. Ich bin nicht wie die Leute in den Videos, ich bin ich und ganz anders, aber dennoch ähnlich – ich hole tief Luft. Ich halte die Luft an. Ich atme aus. Dann spreche ich das Wort in meinem Kopf aus: bi.

Fast kein richtiges Wort

Bi. Das ist eigentlich fast kein richtiges Wort, so kurz ist es. Eigentlich ist es ja nur eine Silbe, nur zwei unscheinbare Buchstaben. Aber die machen eine Riesensache aus dem Rest des Wortes, aus „-sexualität“. Aus etwas Natürlichem, Richtigem, Gesundem, ein Stück weit immer noch Tabuisiertem, aber grundsätzlich Normalem wie Sexualität wird ein undurchdringliches Kuddelmuddel.

Einmal habe ich gesagt, ich bin vielleicht bi, und eine liebe Freundin, die nur mit Männern schläft, sagte mir: „Es ist doch total sinnlos, Sexualität am Geschlecht fest zu machen, es geht doch um die Person.“ Ein andernmal habe ich gesagt, ich bin bi, und eine andere liebe Freundin, die auch nur mit Männern schläft, erwiderte: „Ich muss sagen, ich gehe erstmal davon aus, dass ich bisexuell bin. Solange bis ich mir selbst das Gegenteil beweise.“ Und dann habe ich nochmal gesagt, dass ich bisexuell bin, und eine dritte Freundin, die mit Männern und Frauen schläft, sagte dazu, sie fände „pansexuell“ einen inklusiveren Begriff. „Nur so als Gedanke für dich.“

Jedes Mal fühlte ich mich unverstanden. Es ist völlig widersprüchlich, aber wenn jemand etwas sagt, das mein Bi-Sein relativiert, finde ich das empörend. Dabei bin ich mir doch nicht ganz und gar sicher, ob das wirklich wahr ist, und stelle es selbst ständig in Frage. Habe meine Probleme mit einem Label, das zwar besser zu mir zu passen scheint als „hetero“, aber doch mein Begehren nicht wirklich fassen kann. Hinzu kommt, dass meine Empörung augerechnet Menschen gilt, die mich lieben und die mit ihren Bemerkungen lediglich ihrer Akzeptanz Nachdruck verleihen wollten.

Eine bisschen Kuscheln als Kick-Off

März 2020. Ich mache ein Praktikum in Berlin und genieße das Gegenteil von dem, was man von Leuten erwarten würde, die ein Praktikum in Berlin machen: die Struktur meines Achtstunden-Arbeitstages. Manchmal gehe ich ins Kino, aber lieber nur am Wochenende, kein einziges Mal gehe ich feiern. Berlin wird trotzdem der Kick-Off für mein inneres Coming-Out.

Das kommt so: Eine Freundin, die in einer anderen Stadt studiert, kommt für ein Wochenende zu Besuch. Mit, nennen wir sie Mia, rede ich sehr offen über Sex. Im letzten Jahr gab es viel zu erzählen und Mia weiß alles über mein Sexleben. Ich habe schon bei unserem letzten Treffen gemerkt, dass mich unser Realtalk über Sex anturnt und schon beim letzten Mal haben wir das Thema „Würde ich was mit Frauen anfangen und wenn ja, würde ich auch mal was mit einer Freundin ausprobieren“ gestreift. Danach übernachtete ich bei ihr und schlief neben ihr in ihrem großen Bett – eine unruhige Nacht, weil mir jedes Mal, wenn sie sich im Schlaf bewegte und ihr Arm oder Bein dabei meine Haut berührte, heiß und kalt vor Erregung wurde.

Jetzt ist Mia also ganze vier Tage zu Besuch. An drei der Abende schläft sie auf einer Isomatte neben meinem Bett ein, am vierten landen wir irgendwie beide in meinem Bett. Wir kuscheln, aber nur ganz langsam. Vorsichtig streiche ich mit meinen zittrigen Fingern über ihre Arme und fast, ohne dass die Bettdecke raschelt, verschränkt sie ihre Beine mit meinen. Wenn ich die Augen nicht geschlossen habe, um mehr zu spüren, blicken wir einander an und ich flüstere Dinge, die in Zimmerlautstärke niemals sexy klingen würden, weil es ganz normale Sätze sind – die aber, wenn ich sie wispere, völlig aufgeladen werden.

Ich bin kein Alien

Sonst passiert gar nichts. Hier folgen jetzt keine Beschreibungen von heißem Sex, weil es keinen gab. Mia wird es bald zu viel und wir hören mit dem Kuscheln und Streicheln auf. Später, als ich alleine in meinem Bett und sie alleine auf ihrer Isomatte liegt, ärgere ich mich über meine Rücksichtnahme, obwohl ich weiß, dass alles andere völlig falsch gewesen wäre. Ich will es so sehr an diesem Abend, ich will sie so sehr – ich will eine Frau. Als die Erregung abebbt, dreht sich dieser Gedanke eine Weile einsam in meinem Kopf um sich selbst. Bald rührt er Angst und Aufregung auf und sie fliegen durcheinander. Ich kann nicht schlafen.

Ich hatte schon früher darüber nachgedacht, was an mir anders war. Schon mit sechs, als ich in der ersten Klasse eine meiner Freundinnen so lieb hatte und ihr gern kindliche Küsse geben wollte, um ihr zu zeigen, wie sehr ich sie mochte. Was im Kindergarten kein Problem gewesen war, wurde in der Grundschule plötzlich Grund, sie von mir wegzuziehen und über mich zu lachen. Oder mit vierzehn, als ich auf einer Mädchenfreizeit heimlich für eine der Betreuerinnen schwärmte. „Ich bin lesbisch“, dachte ich und war darüber völlig verzweifelt. Dann verguckte ich mich als nächstes in einen Jungen und die Welt war wieder in Ordnung – doch nicht lesbisch, Glück gehabt.

Früh am nächsten Morgen reist Mia ab, wir reden nicht mehr über die letzte Nacht. Den ganzen Tag über bin ich aufgewühlt und hilflos. Eine intime Erfahrung mit einer Frau lässt sich nicht so gut verdrängen wie ein harmloser girlcrush. Am Abend halte ich es nicht mehr aus und erzähle alles meinem Mitbewohner, mit dem ich gut befreundet bin. „Findest du das komisch?“, frage ich ihn. „Nein, gar nicht. Warum sollte ich?“, sagt er, völlig cool. „Findest du es denn komisch?“

„Ja. Ich fühle mich wie ein Alien.“

„Du bist doch kein Alien. Das ist doch ganz normal und voll okay.“

In diesem Moment fällt alles Alien-Artige von mir ab. Ich atme durch und lasse mich in die Erleichterung über seine Akzeptanz fallen. Ich bin diesem Freund sehr dankbar für seine entspannte Reaktion und auch jetzt noch, vier Monate später, rede ich am liebsten, weil am befreitesten, mit diesem Freund über meine bisexuellen Gehversuche.

Damals dachte ich, das würde jetzt einfach anhalten, dieses „Alles ganz normal“-Gefühl. Aber weit gefehlt.

Ich denke: Nein, das darfst du nicht

Die meiste Zeit denke ich nicht groß darüber nach, dass ich bisexuell bin und was das für mich bedeutet. Meistens habe ich mit meinem Studium und aktivistischer Arbeit genug zu tun, um mich sehr effizient abzulenken. Aber dann gibt es diese internalised biphobia-Momente (also Momente, in denen sich mir meine verinnerlichte Ablehnung von Bisexualität zeigt). Zum Beispiel, wenn ich auf der Straße oder in der Bahn einen attraktiven Mann entdecke und ihm interessiert hinterhergucke – und dann denke: ‚Nein, das darfst du nicht. Du stehst doch jetzt auf Frauen.‘ Meinem eigenen Kopf ist es unvorstellbar, dass ich auf Frauen und auf Männer stehen kann.

Oder wenn ich denke: ‚Ich kann unmöglich sagen, dass ich bi bin, weil: Vielleicht ist es ja nur eine Phase.‘

Oder wenn ich an meine Schwester denke, die sich vor ein paar Jahren als pansexuell geoutet hat. Ich frage mich panisch: ‚Oh nein, was sollen meine Eltern nur denken, wenn ihre beiden Töchter nicht hetero sind, nicht normal?‘

Meine Empörung darüber, wenn Andere meine Bisexualität nicht so ernst nehmen, wie ich es mir wünsche, kommt genau daher: Ich nehme sie selbst nicht ernst. Meine Verletztheit, wenn Andere meine Bisexualität nicht ganz normal finden, kommt daher, dass ich sie selbst nicht normal finde.

Lange wollte ich mich nicht mit ihr beschäftigen, weil ich ahnte, was das bedeuten würde. Meine Bisexualität anzunehmen bedeutet für mich, mich mit meinen Ängsten beschäftigen zu müssen. Es heißt, Rollenbilder, Klischees und kulturelle Vorgaben in meinem Denken erkennen, benennen und überarbeiten zu müssen. Weil ich bisexuell bin, ist Sexualität für mich nicht nur Genuss, sondern außerdem Arbeit.

Es ist anstrengend, mich zu fragen, woher Ängste, Aberkennung und Ablehnung in mir kommen. Und es erfordert politische Arbeit, dass Menschen, die sind wie ich, sich mit Ängsten, Aberkennung und Ablehnung im Außen konfrontiert sehen.

Es war ein langer Prozess, bis ich mich mit dem politischen Teil vom Frau-Sein angefreundet hatte. Und jetzt, wo ich das habe, bedeutet das vor allem, dass ich oft wütend bin. Das Label „bisexuell“ anzunehmen, ist auch deshalb schwierig für mich, weil es heißt, dass noch ein weiterer Teil von mir politischer ist als mir lieb ist.

Gegen das Unsichtbar-Sein

Bisexualität ist in unserer Kultur weitestgehend unsichtbar. In den meisten Kulturen ist sie das, und ich sage nur „in den meisten“, falls es vielleicht doch eine geben sollte, die ich nicht kenne, in der Bisexualität etabliert und normal ist. Gefühlt nämlich ist sie in allen Kulturen einfach nicht existent: Sie wird nicht mitgedacht und im kollektiven Gedächtnis kommt sie kaum vor.

Deshalb komme ich nicht umhin, nicht nur für mich ganz allein, sondern offen bisexuell zu sein. Weil ich mich entscheiden muss, ob ich unsichtbar bleiben oder zu meiner Bisexualität stehen will, entscheide ich mich klar für Sichtbarkeit. Ich will nicht durch mein Bedeckthalten verstärken, was mir selbst das Leben schwer macht. Ich komme aus einem Haushalt mit offenen, akzeptierenden Eltern und habe Freund*innen, die da sind, wenn ich sie brauche und die mir Mut machen – das ist auch ein Privileg. Nicht alle nicht-heterosexuellen Menschen können sich auf solche Unterstützung verlassen. Also spüre ich auch eine Verantwortung, dieses Privileg zu nutzen.

Das klingt super mutig. Und das ist es auch, weil ich echt Angst vor Ablehnung habe. Offene Ablehnung ist mir bisher zwar nicht begegnet, zum Glück. Implizite Ablehnung und Berührungsängste aber habe ich schon erlebt, in Form von Relativierung. Dazu zähle ich die vorhin aufgezählten, gut gemeinten Aussagen von Freundinnen. Das sind keine großen Sachen, aber sie haben sich festgesetzt. Um für Relativierung (und Schlimmeres) in Zukunft gewappnet zu sein, muss ich vor allem eins: Mich mit meinem Label bei aller Rest-Unsicherheit so sicher fühlen, dass ich über der äußeren Ablehnung stehen kann.

Es könnte alles so einfach sein. Mein Gefühl und mein Begehren ließen sich eigentlich auf wenige Sätze kondensieren: Ich begehre Frauen. Ich begehre Männer. Ich kann mir mich ebenso gut an der Seite einer Frau wie der eines Mannes vorstellen. Bei anderen Geschlechtern bin ich mir nicht sicher.

Wenn ich es so sage, klingt es für meine Ohren natürlich, richtig, gesund, normal und vor allem: schön. Aber so einfach ist es nicht. Um mich von meinen eigenen Ängsten und meiner Selbstablehnung zu befreien und damit die Gesellschaft ein Stück befreiter zu machen, sage ich: Ich bin bisexuell.

Transparenzhinweis, 9. Juni 2020: Ich habe den ursprünglichen Text nach der Veröffentlichung noch einmal leicht geändert.