Ist das Leben ein Konkurrenzkampf?


Dennoch ist anzumerken, dass sich im Moment ermutigende Gesten der Solidarität beobachten lassen.

Besteht das Leben lediglich aus einem täglichen Kampf ums Überleben?

Heute finden wir uns inmitten von Menschheitskrisen wieder.  Die Corona-Pandemie sorgt im Moment für eine Veränderung des gesamten Alltags. Viele Menschen müssen sich beurlauben lassen oder in Kurzarbeit gehen, um nicht ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das führt einerseits zu einem Gefühl von Unsicherheit. Die Angst lässt uns auf instinktive Schutzreaktionen zurückgreifen, wir erstarren, kämpfen oder fliehen. Doch können wir es uns in der heutigen Zeit  leisten, zu erstarren? Stecken wir nicht zu sehr in der Scheiße, als dass wir jetzt in Angst an Altem festhalten können?

Dennoch ist anzumerken, dass sich im Moment ermutigende Gesten der Solidarität beobachten lassen. Wenn ich zum Beispiel einkaufen gehe, so komme ich oft an einem Gabenzaun vorbei. Dieser ist eigens eingerichtet, um obdachlosen Menschen eine Versorgung mit Lebensmitteln zu ermöglichen. Auch nähen viele Personen in meinem Umkreis Mundschutzmasken, bieten Einkaufshilfe an oder betreuen Kinder. In der aktuellen Lage sind Solidarität und Kooperation gefragt. Wir bemerken: Mit der alten Denkweise des Wettbewerbs kommen wir nicht weiter. Doch bei sehr vielen Menschen besteht die Annahme, der Mensch sei von Grund auf gierig und egoistisch weiter.

Liegt uns der Wettbewerb und der Kampf ums Überleben uns im Blut?

Wenn wir dies aus biologischer Perspektive betrachten, so ergibt es Sinn, uns unsere nähesten tierischen Verwandten anzuschauen. Die Wissenschaft zeigt uns heute, dass Moral und gegenseitige Unterstützung  bei allen möglichen Tierarten von Wölfen, Delfinen bis hin zu Affen zu beobachten ist. Alle Wesen haben gewisse ethische Verhaltensregeln, die die Schwächeren einer Gruppe schützen und unterstützen. [1]

Wenn zum Beispiel eine junge Schimpansin eine Banane findet, so würden die Stärkeren der Gruppe diese nicht stehlen. Wenn der „Alpha“ diese Banane stehlen würde, könnte er dadurch sogar seinen Status einbüßen. Das zeigt, dass Affen es vermeiden, einen Vorteil aus der Schwäche anderer zu ziehen. Sie helfen sich sogar gegenseitig. Es wird oft berichtet, dass ein männlicher Alpha-Schimpanse ein verwaistes Affenbaby aufnimmt und es großzieht.(2) Die gegenseitige Unterstützung und Solidarität liegt demzufolge in unserer Natur. Wie kommt es dann, dass wir in wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Wettbewerb leben? Dass Statussymbole eine derartig große Rolle spielen? Dass es hauptsächlich um eigenen Gewinn zu gehen scheint? Und was ist der Preis dafür?

Ich stehe vor der Frage, wie können wir uns als Menschheit einer Krisensituation stellen können. Sollten wir uns darauf vorbereiten? Eins zumindest ist klar: wir sollten es tunlichst vermeiden, überhaupt in eine solche Lage zu kommen! Wir sollten uns der Klimakrise jetzt entgegenstellen. Der Mensch hat Unglaubliches geschaffen: Finanz – und Wirtschaftssystem, eine globalisierte Welt, Gesellschaften, Kultur und noch so viel mehr. Doch eines sollten wir uns immer wieder klar machen: Wir haben noch kein Ökosystem geschaffen. Wir Menschen, als ein Organ des Körpers Erde müssen erkennen, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind. Wir sind sogar so dumm, dass wir unsere eigene Lebensgrundlage zerstören. Während wir weiter das Leben als einen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf ansehen, reproduzieren wir die alten Denkmuster, die uns in diese Krisen geführt haben. Können wir uns dem entziehen? Heißt das Wiederfinden unserer biologischen Wurzeln einen Schritt zur Solidarität und Kooperation?

Fragen lernen

Ein Thema, das ich im Hinblick auf eine Veränderung unseres Zusammenlebens erwähne, ist das Fragen. Denn ich denke, wir haben verlernt die richtigen Fragen zu stellen. Wir begeben uns stattdessen in das tägliche Hamsterrad. Aufstehen- zur Arbeit- Hausarbeit und am Ende, wenn die Kraft noch reicht, Familienzeit. Im alltäglichen Stress sind die meisten grundlegenden Fragen eher wie lästige Fliegen. Was ist der Mensch? Warum gibt es einen Klimawandel? Wie sind wir in diese Lage gekommen? Was bedeutet Solidarität auf globaler Ebene? Solche Fragen sind unbequem, sie lassen uns die eigene Machtlosigkeit spüren. Oder besser: die vermeintliche Machtlosigkeit. Im Fragen steckt jedoch eine unerwartete Anziehungskraft und Offenheit. Beim Fragen öffne ich mich einem Thema. Ein Gespräch wird so nicht ein „Kampf der Standpunkte“, in dem wir alles abwehren, was das eigene Weltbild zerrütten könnte. Denn im Eifer eines solchen Gefechtes geht nicht selten die grundlegende Frage und der Blick aufs große Ganze verloren. Ich bin überzeugt davon, dass jeder verstrichene Tag, an dem wir keine Fragen stellen, eine vergeudete Chance ist. Eine verstrichene Möglichkeit in Freiheit und Zusammenklang mit den eigenen Werten, neue Entscheidungen zu treffen.

Warum also nicht Fragen stellen?

Wie kommt es, dass wir nur selten Fragen stellen? An mir selbst konnte ich Folgendes beobachten: Oft habe ich Angst zu fragen. Ich bin besorgt, dass ich für dumm gehalten werde. Wer hat nicht schon den Satz gehört „Jetzt frag nicht so dumm“? Doch wie sollten wir uns sonst weiterentwickeln, die vielen Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen bemerken und uns zugehörig fühlen? Ich appelliere nun zum Abschluss an den Mut, Fragen zu stellen. An den Mut, anderen zu helfen. An den Mut, Verletzlichkeit zu zeigen und gütig mit sich und anderen umzugehen. Das Leben ist kein Kampf, es wird nur von einigen als ein solcher gelebt. Der Mensch ist nicht von Grund auf gierig. Wir sind entwicklungsfähig. Und um dieses Potential zu entfalten, müssen wir wieder lernen zu fragen. Die lästigen Fliegen sein, die sich immer wieder bemerkbar machen, und die Menschen dazu bringen, aus dem Hamsterrad hinauszuspringen und die wirklichen Fragen unserer Zeit zu stellen

   [1] Dr. Noah Yuwal Harari, 21 Lessons for the 21st Century, Seite 219  (2) https://www.scinexx.de/dossierartikel/adoption-auf-affenart/