Systemfehler- ich oder das System, irgendwer muss gehen! (Teil 1)


Ein System, das fehlerhaft ist, egal wo man nur hinschaut. Eine Quarantäne, drei Systemfehler und ich.

Quarantäne Tag Nummer fünf, ich sitze hier und mein Mitteilungsbedürfnis ist mittlerweile größer als meine Kraftlosigkeit. Und ich raffe mich auf, meinen Laptop einzuschalten und dieses Dokument zu öffnen. Eigentlich bin ich viel zu fertig zum Schreiben und auch zum klare Gedanken fassen, aber denken tue ich die ganze Zeit trotzdem. Vor allem denke ich sehr viel über das schlechte Gewissen nach, das mich neben dem Husten und allerlei anderen Symptomen durch diese Quarantäne mit begleitet. Corona zu haben bedeutet nicht nur krank zu sein. Und was heißt überhaupt „nur“. Krank zu sein ist soooooooo beschissen. Vor allem in einer Welt wie unserer, in der der durchschnittliche Mensch in Deutschland trotz Erkältung trotzdem zur Arbeit geht mit der Aussage „Ach das bisschen Schnupfen“. Aber „das bisschen Schnupfen“ knockt mich regelmäßig aus und wenn ich jetzt gerade nicht verpflichtet wäre mich zu isolieren, dann würden mich wahrscheinlich viele schiefe Blicke treffen, wenn ich sagen würde, dass es mir wegen einer einfachen Erkältung so schlecht geht. Was für ein Glück, das ich Corona habe. Jetzt fragen sogar regelmäßig Menschen nach meinen Symptomen und ob sie mir was Gutes tun können. Systemfehler Nummer eins: Wie wir mit Krankheit umgehen.

Corona zu haben bedeutet aber auch, isoliert zu sein. Und Isolation zählt zu den schlimmsten Dingen, die man mir persönlich antun kann. Mit meiner ohnehin schon labilen Psyche bedeutet Isolation für mich, dass ich spätestens an Tag zwei alles in Frage stelle und schon an Tag eins, schwere depressive Gedanken entwickle. Isolation bedeutet in solchen Fällen, dass die meisten Listen mit Ablenkungsstrategien wegfallen, weil ich mich nicht mit Menschen treffen oder spazieren gehen kann. Isolation bedeutet aber auch, dass ich keinerlei menschliche Kontakte habe und wer nach über zwei Jahren Pandemie immer noch nicht weiß, wie wichtig Umarmungen sind, hat sie wohl auch davor nie zu schätzen gewusst. Alleingelassen mit meinen Gedanken, meinem schwachen Immunsystem und eingesperrt in einem Raum für mindestens sieben Tage. Auf jeden Fall das, was ein Mensch braucht, um gesund zu werden. Also abgesehen davon, dass isoliert sein, auch bei sonst psychisch gesunden Menschen, irgendwann auf die Psyche schlägt und allein sein einfach nicht gesund ist, führt Isolation auf engem Raum irgendwann dazu, dass auch körperliche Leistungsfähigkeiten abnehmen. Nachdem ich das erste Mal mit Corona fast vierzehn Tage in einer Ecke meines Bettes rumlag, hatte ich anschließend Muskelkater vom Haare kämmen . Wie es mit Sport, Treppenlaufen und Konzentrieren aussah, könnt ihr euch jetzt selber denken. Also: Wie soll ein Mensch gesund aus einer Isolation wieder rauskommen, wenn die Umstände alles andere als heilend sind? Systemfehler Nummer zwei: an jede Quarantäne müsste mindestens eine genauso lange Recovery-Zeit angehängt werden, um die entstandenen Schäden ausgleichen zu können.

Aber wir gehen ja lieber direkt wieder Arbeiten.

Arbeiten. Ja klar, warum nicht. Und warum überhaupt damit warten, bis wir wieder gesund sind. In einer digitalisierten, fortschrittlichen Welt wie unserer, brauchen wir doch nicht zu warten. Zeitverschwendung durch und durch. Wir arbeiten einfach in der Quarantäne und der Isolation weiter. Wo ist das Problem? Und damit wir die Jugend auch gleich richtig erziehen, gibt es für die Homeschooling. Kranksein und trotzdem arbeiten oder lernen. Es ist wichtig das früh zu lernen. Multitasking ist vor allem für FLINTA*s später sehr wichtig, denn die können ja auch nicht ihre Kinder später irgendwo zwischenparken, wenn sie krank sind.

Ich habe zwar keine Kinder, aber ein schlechtes Gewissen. Und wie es meistens so ist, weiß ich, dass das schlechte Gewissen unrecht hat. Ich muss mich nicht schlecht fühlen, weil ich in den letzten fünf Tagen nicht mal meine Schulbücher ausgepackt habe. Ich muss mich auch nicht schlecht fühlen, dass ich die Dinge, die ich so insgesamt getan habe, an einer Hand abzählen kann. Aber ich fühle mich trotzdem schlecht. Weil ich weiß, wie andere in ihrer Quarantäne trotzdem an ihren TO Do Listen saßen, weil ich weiß, dass meine Lehrkräfte fragen werden, wo die Aufgaben sind und warum ich sie nicht gemacht habe. Und darüber hinaus habe ich vor in drei Wochen mein Abi zu schreiben und gelernt dafür habe ich bis jetzt nichts. Systemfehler Nummer drei: unsere abgefuckte Arbeitsmoral.

Vor ungefähr zwei Wochen, saß ich mit einer Freundin nachts auf dem Spielplatz, zwischen uns waren viel zu viele Meter Abstand, aber sie war eigentlich noch in Quarantäne. Und wir unterhielten uns darüber, wie komisch es eigentlich sei, dass wir so unsensibel auf das Thema Corona und Krankheit im Allgemeinen reagieren. Ich erinnere mich auch noch an meine Lehrkräfte, die vor fünf Monaten, ziemlich wenig Verständnis für mich übrighatten, als ich, als eine der ersten Impfdurchbrüche in meinem Umfeld, richtig krank war. In den letzten Wochen hat es reihenweise Lehrkräfte und Lernende in die Quarantänen verschlagen und teilweise mich heftigen Symptomen. Zurück kamen alle wie neue Menschen, ihr Verständnis war auf einmal unendlich groß. Gleichzeitig weiß ich auch, dass diese Unendlichkeit begrenzt ist, zumindest zeitlich. Denn die ersten Mails erreichten mich vor zwei Tagen bereits, in denen ich gebeten wurde, die Aufgaben möglichst sorgfältig nachzuarbeiten, damit gute Benotungen möglich seien .

Zurück zum Spielplatz. Wir redeten darüber, wie wir besser für andere da sein könnten. Für Menschen in Isolation, aber auch für kranke Menschen, oder Menschen mit Allergien, warum die hier extra aufgezählt werden müssen, frage ich mich sowieso, weil Allergien teilweise schlimmer sind, wie „einfache“ Erkältungen. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht verstehe. Zum Beispiel, warum wir überhaupt in einem System leben, das Geld und Arbeit als höchstes Gut hinstellt. Warum ich mit dem Denken aufgewachsen bin: „solange ich noch geradeaus laufen kann, kann ich auch zur Schule gehen“. Aber ich verstehe auch nicht, warum alle Pandemiemaßnahmen gelockert werden, während die Infektionszahlen so hoch sind wie noch nie. Aber dabei geht es mir nicht um die Zahlen, viel mehr verstehe ich nicht, wie wir einfach so weitermachen können und auf ein „Back to normal“ abzielen, während ein „Back to normal“ für so viele Millionen Menschen nicht möglich ist. Weil Menschen starben, sie finanzielle Nöte haben, gesundheitliche Spätfolgen, gesundheitliche Probleme, durch die psychische Belastungen oder Menschen, die so sehr gefährdeten sind durch das Virus, dass sie seit über zwei Jahren in grausamer Isolation leben und für sie überhaupt kein Ende in Sicht ist.

Wie können wir für all diese Menschen da sein und trotzdem auch selber Leben? Isolieren wir uns jetzt alle solidarisch? Tragen wir weiterhin Masken, auch wenn wir es gesetzlich nicht mehr müssen? – Ich weiß es nicht.

Aber was ich weiß, ist, dass ich mich nicht so schlecht fühlen würde, wenn ich wüsste, dass ich nicht ein Tag nach meiner Quarantäne wieder zur Schule muss. Am besten mit einer Tasche voller erledigten Aufgaben und einer Ausdauer, die gut genug ist, um direkt Sportnoten zu machen. Wenn ich wüsste, dass die Menschen um mich rum Verständnis für nicht erledigte To Do’s hätten.

Isolation und Coronaquarantäne, inklusive krank sein, sind wie ein kompletter Rausschmiss aus dem System. Fast schon wie eine Testprobe, um zu testen, wie gut, ein Mensch sich wieder in das System reinfindet und vor allem wie schnell. Wenn ich mich jetzt nicht zusammenreiße, kann ich meine Abiprüfungen in drei Wochen knicken, dann bin ich raus aus dem System. Aber auch, wenn ich auf dieses System pfeifen würde, würde ich krank sein und in Isolation, auch ein Rausschmiss aus dem Leben. Für mich persönlich bedeutet es ein Eintauchen in Welten und Gefühle, die ich so in der Intensität nicht fühlen möchte. Depressiv auf dem Sofa liegen und keine Kraft zu haben, die verbliebenen acht Quadratmeter Raum zu nutzen. Allein schon diesen Text hier zu schreiben, hat vermutlich meine Energie für den Rest des Tages ausgeraubt und ob es überhaupt grammatikalisch richtig ist, was ich geschrieben habe, weiß ich auch nicht. Mich durch den Tag zu kämpfen, ohne sämtliche Mentalbreakdowns zu erleiden raubt mir dann die restlichen Kräfte und so frage ich mich, wie ich in ein paar Tagen dieses Haus verlassen soll, wenn ich gerade darum kämpfe, überhaupt irgendwo noch nicht noch kränker zu werden.

Es gibt kein „Back to normal“. Und es gibt auch keine „Après Corona“-Welt, die aussieht wie die Welt vor Corona. Und nicht zu erwarten, dass alles so einwandfrei funktioniert, wie es vor Corona funktioniert hat (was es ja offensichtlich auch nicht hat), damit wäre uns allen unglaublich  geholfen. Einfach die Systemfehler beheben, anstatt sie so hinzunehmen.   Und wisst ihr, es ist super easy, eigentlich. Ein bisschen mehr Verständnis kostet nichts. Ein bisschen mehr Zeit kostet auch nichts. Und eine nicht gemachte Hausaufgabe muss auch keine schlechte Note kosten.

Als wir nach den Lockdowns immer zuerst die Schulen und die Büros geöffnet haben, haben wir unsere Schwerpunkte immer wieder falsch gesetzt. Es ging und es geht immer darum möglichst effizient zu leben. Dabei werden die aussortiert, die erkrankt sind oder aus Gründen nicht teilnehmen können und deswegen nicht mehr mitkommen. Das wiederum heißt aber auch, dass die die noch arbeiten und zur Schule gehen, viel größerem Druck ausgesetzt sind. Wer ist also glücklich mit der Situation? –Niemand. Na gut, vielleicht die  paar Reichen dieser Welt, für deren Geldbeutel  wir uns zu Tode arbeiten.

Es liegt also an uns die Schwerpunkte neu zu setzen. Gerade Erkrankte haben andere Sorgen und müssen ihren Schwerpunkt auf die Gesundheit legen. Aber so insgesamt müssen wir alle ziemlich vieles neu lernen. Sei es das Treppen laufen, oder das Haare kämmen, aber auch das soziale Miteinander. Mehr als fünf Leute gleichzeitig in einem Raum zu unterhalten, kann auch anstrengend sein, wenn man zwei Jahre lang fast niemanden gesehen hat. Und wir alle müssen lernen, dass das System, in dem die meisten von uns aufgewachsen sind, nicht zukunftsfähig und vor allem nicht gesund ist.

Was brauchen wir in einem gesunden System? Was brauchen wir gerade?