Utopie in Lützerath- Wie leben die Klimaaktivist*innen im vom Abriss bedrohten Dorf?


Neben dem Trampelpfad von Lützerath Richtung Kohlegrube steckt ein gelbes Holzschild schief in einem Erdhügel. „Weg der Radikalisierung“, steht dort geschrieben.

Utopie in Lützerath- Wie leben die Klimaaktivist*innen im vom Abriss bedrohten Dorf?
Eine Reportage aus dem Herbst 2022

Neben dem Trampelpfad von Lützerath Richtung Kohlegrube steckt ein gelbes Holzschild schief in einem Erdhügel. „Weg der Radikalisierung“, steht dort geschrieben. Wenige Schritte später, beim Blick in das klaffende, grau-braue Loch, welches den Horizont aufzufressen scheint, das metallische Kreischen der Bagger im Ohr, wird deutlich, was damit gemeint ist: Hier stehst Du vor einer der Hauptursachen der Klimakrise. Und: Dieser Anblick verändert Dich.

Eigentlich ist die Lage spätestens seit dem 4. Oktober 2022 klar – die Siedlung Lützerath soll von der Erdoberfläche verschwinden, verschluckt vom Tagebau Garzweiler 2. Der Energiekonzern RWE möchte die schätzungsweise 100 bis 280 Millionen Tonnen Braunkohle unter Lützerath abbauen. Doch mehr als 200 Klimaaktivist*innen wohnen hier weiterhin, in Baumhäusern, Holzhütten und verlassenen Häusern. Was sie hält, ist der Glaube an die kollektiv geschaffene Utopie einer tauschlogikfreien und hierarchiekritischen Gemeinschaft, die seit 2020 in Lützerath gelebt wird. Und die Hoffnung, die Zerstörung dieses Ortes doch noch aufhalten zu können.

 

„Es geht mir gerade so gut hier, dass ich jede freie Minute hier verbringen will“, sagt Elfi, Mitglied im Presseteam und seit einem Jahr Teilzeit-Lützeratherin. Die Herbstsonne bescheint die mit Parolen und Bildern bemalten Baumhäuser, die die Zeltwiese umgeben. Ein Mensch hackt Feuerholz, ein anderer fährt auf einem Einrad in Richtung der Grube, aus der man einen Bagger sein Werk verrichten hören kann, wie eine leise Drohung.
Elfi ist funktional mit Jeans und Wanderschuhen bekleidet, unter ihrem roten Beanie schauen die mittelbraunen, schulterlangen Haare hervor. Sie zeigt auf ein rundes Zelt mittig auf der Wiese. „Das ist das Zirkuszelt. Da haben wir drei Mal die Woche Dorfplenum, wo alle wichtigen Anliegen besprochen und entschieden werden. Alle dürfen teilnehmen, auch Gäst*innen und alle können sich einbringen.“
Ihr anderes Leben, außerhalb von Lützerath, sei ein typisches Studi-Leben in einer Großstadt mit Mini-Job und WG-Zimmer, erzählt sie: „Mein anderer Alltag funktioniert viel in Schichtplänen, starrer Planung, Zuständigkeiten. Hier ist das nicht so und ich merke, dass es viel besser ist, wenn ich entscheiden kann ‘Was kann ich, was will ich lernen, worauf hab‘ ich heute Lust?’ Das geht, weil sich die Menschen hier verantwortlich fühlen – füreinander und für das Dorf – und alle wissen, warum sie etwas machen. Ich bin hier einfach viel freier, was ich mit dem Tag machen kann.“

 

Wer macht eigentlich die Care-Arbeit?
Ob nicht dann die Arbeit an einzelnen Menschen hängen bleibt? „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich keine halbe Stunde spülen kann, ohne dass nicht mindestens ein Mensch kommt und fragt, ob ich Hilfe oder eine Ablöse brauche. Ich freue mich auch jedes Mal, dass andere sehen, da arbeitet jemensch länger und ich hab‘ grad Zeit zu helfen. Allgemein wird ja grade viel diskutiert: Wer macht eigentlich die Care-Arbeit? Macht das irgendjemand freiwillig?“ Sie breitet die Arme aus und nickt „Ja! Was wir schon alles auf die Beine gestellt haben: Bildungswochen, Festivals, Demos. Hier findet sich immer wer. Seit 2 Jahren wird hier täglich und unentgeltlich für alle gekocht, sich umeinander gekümmert und Kompostklos geputzt.“ Obwohl Putzen hier vielleicht etwas euphemistisch klingt: Die „Shit Brigade“, wie der Putztrupp genannt wird, muss einmal täglich die Regentonnen und Kanister, in denen Urin und Kot getrennt voneinander gesammelt werden, wegtragen, ausleeren und neue Kanister in den aus Pressholz gezimmerten Kabinen anschließen.

Es geht um Klimagerechtigkeit
Der Rest des Dorfes erstreckt sich über eine weitere Zeltwiese, einem Wäldchen voller Baumhäuser und einigen Häusern und Scheunen, die noch nicht von RWE abgerissen wurden und die einen neuen Zweck als Unterkunft, Gemeinschaftsküche, Skatepark oder Atelier erhalten haben. Am Dorfrand nahe der Kohlegrube befinden sich die Zelte der Mahnwache, in denen Kaffee, Tee und vor der Mülltonne geretteten Snacks auf Bierzeltgarnituren bereitstehen. Es schlendern Aktivist*innen vorbei, um sich einen Kaffee mit an die Kante zu nehmen. Tagestourist*innen,die vor allem auf Fahrrädern zum Dorf kommen, schauen sich die vielseitigen Infomaterialien an, die rund um und in der Mahnwache an Pinnwänden und auf Tischen ausgestellt sind. Hier wird die Position der Klimaaktivist*innen deutlich: „Wenn Lützerath fällt, verfehlt Deutschland deutlich seine Klimaziele“ und „Es geht im Kampf um Lützerath um so viel mehr als deutsche Emissionsreduktionsziele und die Verteidigung eines Dorfes. Es geht um Klimagerechtigkeit.“

„Wo jeder einzelne wichtig ist“
Doch manche Besucher*innen bleiben auch spontan. So wie Lupine, der*die anonym bleiben möchte. Lupine wollte eigentlich nur einige Tage bei der kollektiven, also gemeinschaftlich betriebenen Landwirtschaft mit anpacken. Spontan entschloss sich Lupine, in Lützerath zu bleiben, solang es geht. „Ich fühle mich hier so wohl, wie an schon lange keinem Ort mehr. Es ist für mich einfach dieses Leben in einer sehr offenen, freien Gemeinschaft. Wo es natürlich Absprachen gibt, wo auf die Gemeinschaft und auch auf das individuelle Wert gelegt wird, wo Menschen ganz einfühlsam und aufmerksam miteinander umgehen, wo jeder Einzelne einfach auch wichtig ist. Wo gefragt wird ‚Wie fühlst du dich? Brauchst du Support?‘ Und es funktioniert halt auch so, ohne irgendwelche Regeln und Hausordnungen, wo gesagt wird ‚Jetzt halt dich daran, oder du fliegst raus!‘“

„Ich darf ja nicht aufgeben“
Lupine zeigt den Acker der kollektiven Landwirtschaft – KoLaWi- genannt –,einen Steinwurf von der Mahnwache auf einem der Lützerath umgebenden Felder. „Ich hab‘ selten um die Jahreszeit noch so schöne Freilandpflanzen gesehen. Das sind einfach die milde Temperaturen hier im Rheinland und die außergewöhnlich guten Böden. Deshalb ist diese Region halt auch besonders wertvoll für die Landwirtschaft“, schwärmt Lupine.
Lupine zeigt begeistert die Zucchini- und Tomatenpflanzen, den Spinat und die Kürbisse. Weiter hinten wächst noch Wintergemüse. Am Wegesrand stehen Gewürzsträucher unter improvisierten Mini-Gewächshäusern aus Fensterscheiben. Lupinedeutet auf die abgeernteten Beete, im Hintergrund schaufelt ein Kohlebagger quadratmeterweise Boden weg. „Dann wäre jetzt eigentlich die Zeit eine Gründüngung auszubringen, um den Boden wieder fürs nächste Jahr vorzubereiten. Aber wer weiß, ob sich das lohnt, ist ja auch wertvolles Saatgut.“ Lupine hält kurz inne, fügt dann hinzu: „Aber so will ich gar nicht denken, mit der Energie will ich da gar nicht rangehen, ich darf ja nicht aufgeben.“
Aufgeben will hier niemand. Die Aktivist*innen wollen die Räumung des Dorfes mindestens bis Ende Februar verhindern. Dann wäre Lützerath vermutlich für ein weiteres halbes Jahr sicher, weil die Bäume aus Natur- und Artenschutzgründen nach dem 1. März nicht gerodet werden dürfen. Bis dahin bauen die Aktivist*innen weiter Baumhäuser und Gerüste, die sie mit ihren Körpern besetzen können, wenn die Polizei wie angekündigt am 14. Januar (oder eben schon früher) zur Räumung anrücken wird.

 

 

Die Namen der Protagonist*innen wurden geändert.