Wie können wir die Welt verändern?


Ich denke, der Wandel, der in die Welt kommen will, wird nicht aus alten, reproduzierten Egomustern kommen

Gestern Mittag saß ich an meinem Schreibtisch und wollte arbeiten. Doch war ich von innerer Unruhe getrieben, konnte mich nicht konzentrieren. Meine Gedanken rasten unermüdlich – nicht auf eine gestresste Art und Weise, sondern suchend, träumend. Wie viel Wandel andere Menschen in der Welt schafften, während ich hier saß! Ich hörte mich laut zu mir selbst sagen: „Du musst jetzt erst einmal raus, in die Natur und nachdenken.“

Gesagt, getan. Eilig packte ich meinen Hausschlüssel und ein Buch in eine Stofftasche und lief los in Richtung Wald. Das Gefühl, etwas tun zu müssen, war ein Ermutigendes. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wenn ein so großer Wandel in der Welt geschieht, dachte ich. Nein, ich will Teil davon sein und ihn mitgestalten!

Kurz kam mir der Gedanke, nach Lesbos zu reisen – ich entschied mich jedoch dagegen, da ich keine besonderen Fähigkeiten, keine Ausbildung habe. Nichts, was mich wirklich dazu befähigt, dort zu helfen. Auch würde ich durch eine Reise – die nicht zuletzt fast unmöglich wäre – mehr Menschen gefährden, als wenn ich zu Hause bliebe. Denn während ich diesen Text schreibe, zwingt uns die COVID-19-Pandemie, Distanz zu Anderen zu wahren und in Quarantäne zu bleiben, um gefährdete Mitmenschen zu schützen.

Während ich so darüber nachdachte, was zu tun sei, lief ich durch den Wald und sah um mich herum überall Müll liegen. Kurzerhand begann ich, diesen aufzusammeln. Mit einem Mal wurde ich von anderen Menschen im Wald angesprochen und angelächelt. Sie sagten, sie seien inspiriert davon, was ich täte und wollten sich das nun auch angewöhnen.

Später an diesem Nachmittag besuchte ich meine Eltern, die zu meinen Kontaktpersonen gehören. Dort nähte ich Mundschutze für die Menschen, die sich im Flüchtlingslager auf Lesbos um die Gesundheitsversorgung kümmern. Wieder ein winziger Tropfen auf den heißen Stein. Aber dennoch wurde ich so Teil eines Flusses von Menschen, die etwas tun wollen.

Wichtige Fragen stellen

Gerade jetzt ist der Moment, sich selbst und anderen wichtige Fragen zu stellen. Ich frage mich: Was bereitet mir wirklich Freude? Gefällt mir das, was ich im Moment mit meinem Leben tue? Ich zweifle an meinem Motiv: Mache ich das alles nur aus Angst, nicht in dieser Gesellschaft bestehen zu können? Was sind wirklich meine Träume?

Ich versuche bewusst und mutig Liebe in zu leben, so wie ich es auf einem „Visionspfad“ letzten Sommer entschieden habe. Dabei ging es darum, Zeit ganz allein in der Natur zu verbringen. Auf diesen Wanderungen bekamen wir Fragen gestellt, über die wir nachdachten Dazu gehörte auch die Frage, wie ich in der Welt wirken möchte. Damals habe ich mich für fünf Prinzipien entschieden, die ich durch mein Leben in die Welt bringen möchte. Ich benannte Intuition, Mut, Liebe, Heilung, Inspiration und Achtsamkeit als meine leitenden Werte. Zuerst dachte ich tief in mir drinnen, dass ich mir damit viel zu viel vorgenommen haben könnte – ein heimlicher Gedanke. Doch mit der Zeit lerne ich meiner Wahl mehr und mehr zu vertrauen.

Vertrauen in meine Fähigkeit, diesen Prinzipien Schritt für Schritt in mein Leben zu integrieren – auch wenn es sein kann, dass ich sie zwischendurch immer wieder aus den Augen verliere. Ich verstehe sie als Ruf aus der Zukunft, dem ich zuhören und folgen kann. Sie ermöglichen mir immer wieder neue Orientierung, wenn ich nicht weiter weiß oder etwas Neues ausprobieren möchte.

In der aktuellen Situation werde ich durch die plötzliche Ruhe und das Alleinsein mit Ängsten und lang verdrängten Gefühlen konfrontiert. In dieser Situation versuche ich, bewusst zu reflektieren, was mir diese Gefühle zu sagen haben. Ich frage mich zum Beispiel, wann in meinem Leben mein Ego handelt, mein Ego sich ängstigt und warum. Wie oft bin ich in meinem Alltag als selbstgefälliges, ruhmsüchtiges Arschloch unterwegs? Mir diese Fragen zu stellen kann ganz schön unangenehm sein. Doch so sehr ich mich innerlich dagegen sträube, so sehr kann ich daraus lernen meine Haltung zu prüfen, mit der ich in der Welt stehe.

Aus dieser Reflexion entstand mein Beschluss, mit mir selbst gütiger umzugehen. Ich möchte lernen, mir zu verzeihen. Zugleich will ich weiter aufmerksam beobachten, welche Motive mein Handeln bestimmen und gegebenenfalls an ihnen arbeiten.

Wir stehen uns selbst im Weg

Ich denke, der Wandel, der in die Welt kommen will, wird nicht aus alten, reproduzierten Egomustern kommen, sondern aus der Ruhe und freien Selbstentfaltung. Viele Menschen, mit denen ich spreche, denken viel mehr darüber nach, was alles nicht möglich ist, was sie nicht können als über das, was möglich ist. Dabei verlernen wir, dass wir eigentlich viel mehr können, als wir uns selbst zutrauen.

Maja Göpel, eine Wirtschaftswissenschaftlerin, sagte in einem Interview [1], dass wir uns durch dieses gewohnte Verhalten im Hinblick auf eine sozial-ökologische Transformation selbst im Weg stehen. Viel zu wenig glauben wir daran, dass wir sie schaffen könnten. Ich verstehe sie so: Wir vermögen viel mehr, als wir uns selbst auf unseren gewohnten Gedankenpfaden vorstellen können. Oft sind diese nämlich schon ziemlich ausgelatscht.

Besonders Träume sind ein wichtiges Mittel, um herauszufinden, wohin wir wollen. Wonach sollen wir denn unser Handeln und unsere Entscheidungen ausrichten, wenn wir nicht wissen, wohin wir wollen? Visionen haben das Potential, ein sehr kraftvoller Ruf aus der Zukunft zu sein, wenn wir es nur wagen, uns konkrete Schritte vorzustellen.

Wenn wir in einer Krisenzeit nicht weiterwissen, und wir uns in einer scheinbar ausweglosen Situation wiederfinden, wenn wir mit unserer eigenen Angst konfrontiert sind, dann sind die instinktiven Reaktionen häufig Flucht, Erstarren oder Kampf. Wir greifen dann auf alte Denkmuster zurück, die wir uns im Laufe unserer Biografie angeeignet haben, halten an Altem fest und verbauen uns auf diese Art und Weise neue Wege. Aber gerade in einer Krisensituation brauchen wir eine Veränderung des Status Quo, eine Transformation der Denkweise, die uns in diese Krise geführt hat.

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“  (Albert Einstein)(2)

Neue Denkweisen

In diesen Notsituationen müssen wir uns gegen das Starre, auf Altem Beharrende in uns wenden und stattdessen unseren Willen auf die Verwandlung fokussieren. Wenn ich innehalte und frage: „Was brauche ich wirklich?“, so reduziert sich das zumeist auf grundlegende Dinge: geliebt werden, selbst zu lieben, Schlaf, Nahrung und dazu beizutragen, dass die Welt gut und gerecht ist. Darauf aufbauend kann ich mir eine klare Vision bilden, wie wir in Zukunft als Menschheit zusammen auf diesem wunderschönen Planeten leben könnten.

Was blockiert mich auf diesem Weg? Manchmal merke ich, dass ich ziemlich gegen meinen inneren Schweinehund ankämpfen muss. Es ist harte Arbeit, mich mit meinem Willen den alten, antiquierten Verhaltens– und Gedankenmustern zu widersetzen. Was mir dabei hilft, ist ein Motiv zu haben, das mich tief in meinem Inneren berührt. Es hilft mir, zu wissen, warum ich das tun möchte. Bekräftigend kann auch eine Erkenntnis wirken, die so tiefgreifend ist, dass mir keine Möglichkeit bleibt, als nach ihr zu handeln.

Solche Momente durfte ich schon häufiger erleben. Aber zwei Ereignisse haben mich und meine Welt wirklich verändert.

Vor drei Jahren wurde ich auf einer langen Reise krank, musste im Bett bleiben und fühlte mich verloren in der großen Welt. Ich war noch nicht politisch aktiv, aber schon seit ein paar Jahren Vegetarierin. Ich dachte über mein Vegetarierin-Sein nach und stieß auf eine Frage, die ich bisher immer in den Hintergrund gedrängt hatte: Warum gibt es Menschen, die vegan leben und sich politisch für Tierrechte einsetzen? Bisher hatte ich das Thema als für mich nicht relevant abgetan, hatte immer gesagt „Ich könnte das einfach nicht.“  Jetzt hatte ich nichts anderes zu tun und wusste, dass ich endlich nach einer Antwort suchen musste. Offenheit und Bereitschaft waren in mir gewachsen, um mich mit diesem Thema endlich zu beschäftigen.

Ich begann nun zu recherchieren, Interviews zu lesen und mir ein möglichst breites Bild der Sachlage zu erarbeiten. Nach einem langen Tag, den ich mit dem Lesen von Artikeln und einigen Dokumentationen verbracht hatte, stand mein Entschluss so gut wie fest. Ich wusste, ab diesem Tag würde ich es nicht mehr verantworten können, so weiter zu leben wie bisher. Für Tiere, Menschen und Natur. Diese Erkenntnis berührte mich in meinem tiefsten Kern.

Auch meinen Entschluss, Klimaaktivistin zu werden, traf ich, als ich die Erkenntnis hatte, dass es so nicht weitergehen darf. Nachdem das Thema mich auf einer tieferen Ebene berührt hatte.

Nach solchen Erlebnissen war mein Leben ein anderes, es gab kein Zurück mehr.

Aufwachen und Inspirieren

„Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man strebt, nach der man sich sehnt, die man verwirklichen möchte, dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen.“ (Erich Fromm)[3]

Ich hoffe, dass diese Art von „Aufwachen“ mehr und mehr ein ansteckendes Erwachen wird. Dass viele Menschen die tiefe Erkenntnis spüren, so nicht mehr weiterleben zu können und zu wollen.

Und damit dieser Impuls nicht verebbt, brauchen wir eine Gemeinschaft, die diese Ziele mitträgt. In der wir uns nicht an einen alten, verkrusteten Status Quo anpassen und unsere Visionen verdrängen müssen, um dazu zu gehören.

Ich brauche stattdessen eine Gemeinschaft, in der es normal ist, gemeinsame – und auch individuelle – große Träume zu haben. In der wir uns nicht durch unsere Unterschiede trennen lassen. Ich möchte in einer Welt leben, in der wir uns gegenseitig Mut machen, den eigenen Visionen nachzugehen. In der wir dies im vollen Bewusstsein unserer eigenen Würde und Freiheit tun und dabei nicht die unantastbare Würde außer Acht lassen, die allem um uns herum innewohnt. Ich träume von einer Gesellschaft, in der wir Menschen wieder den Mut haben, uns zu öffnen. In der wir uns berühren zu lassen von den Wundern der Welt, von anderen Menschen und Tieren.

Was hat dies mit einer Weltveränderung zu tun? Ich denke, um als Gemeinschaft einen Wandel zu bewirken, brauchen wir Zusammenhalt und Stabilität durch bedingungslose gegenseitige Unterstützung. Ich habe keine Lust auf Wettbewerb und Gegeneinander, sondern weiß, dass wir nur zusammen wirklich Großes bewegen und über uns hinauswachsen können.

„Nur eine große Gruppe, die gut untereinander vernetzt ist und eine gewisse Arbeitsteilung kennt, hat die Chance, Neues zu erfinden und das Wissen an die Nachkommen weiterzugeben“, sagt Chris Stringer, (Neandertaler-Experte am Londoner Natural History Museum)[4].

Die heutigen Herausforderungen fragen nach selbstbestimmten Individuen, die nicht aus Angst und Aversion die Welt verändern wollen. Sondern aus Liebe und im Anblick der Würde aller Existenz.

Was brauchen wir, um die Welt zu verändern?

Folglich ist eine große Frage, die mich beschäftigt: Wie können wir die Rahmenbedingungen für einen Wandel hin zu einer Gemeinschaft schaffen?

Dann eine andere Frage, die in meinem Studium, einem Pionierjahrgang für selbstbestimmte Bildung, sehr präsent ist: Welche Art von Bildung brauchen wir, um uns als selbstbestimmte, freie Menschen von der Welt berühren zu lassen und diese mit großen Visionen zu gestalten? Wir fragen uns: Wie können wir Fähigkeiten im Denken, Fühlen und Tun erwerben, damit wir eigenständig Initiative ergreifen können, um die Welt zu verändern? Und welche Basis brauchen wir dafür auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene? Brauchen wir ein neues Wirtschaftssystem, wenn wir im Einklang mit der Natur und im Verständnis der Würde der Menschen und Tiere leben wollen?

Es ist eine wichtige Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen. Rilke schreibt in seinem Brief an einen jungen Dichter folgende Sätze:

„Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“ [5]

Deshalb frage ich mich: Wie können wir als Individuen die Gemeinschaft bilden, die uns zusammenhält und trägt? Wie können wir Barrieren überwinden, wie unterschiedliche Weltbilder?

Lebenslanges Lernen

Hier bin ich wieder an meinem Ausgangspunkt: Dem Moment, in welchem ich mich entschloss, gütig mit mir selbst und anderen umzugehen. Ich habe verstanden, wie wichtig es ist, meinen inneren Frieden zu finden, mir zu vergeben und dies dann nach außen zu tragen. Meine Motive und mein Verhalten bewusst zu reflektieren und aus dieser Reflexion Werte zu bilden. Werte, nach denen ich selbstbestimmt handeln kann, Entscheidungen treffen kann, Dinge in mein Leben einlade, die ihnen entsprechen.

Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der mein entschlossenes „Nein“ zu Dingen, die nicht meine Werten entsprechen, unterstützt wird. Ich möchte nicht durch Werbung geradezu genötigt werden, Dinge zu konsumieren, die ich nicht brauche – während zugleich klipp und klar gesagt wird, wir müssten die Ressourcen schonen. Das ist paradox. Und um das zu verändern, brauchen wir eine Lösung, die wir nur alle zusammen erarbeiten können.

Mit kollektiver Intelligenz lassen sich ganz neue Lösungen entwickeln. Gemeinsam kommen wir auf neue, ganz andere Ideen und können durch die gegenseitige Unterstützung viel mehr möglich schaffen. Durch diese Unterstützung können wir wahre Freiheit erleben: Wir werden immer wieder aufgefangen, anstatt miteinander im Wettbewerb zu sein. In dieser Sicherheit kann jedes Individuum sich seine Zeit für die eigene Entwicklung nehmen und in Freiheit sein Potential entfalten.

Wenn wir also eine Kultur des lebenslangen Lernens, der Entwicklung schaffen und uns gegenseitig stärken, dann können wir uns den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen. Wir sind alle Menschen, und dürfen auf diesem wunderschönen Planeten leben. Es gibt viel mehr was uns vereint, als uns scheidet. Und gemeinsam können wir viel mehr, als wir uns heute erträumen können.

Quellen:

[1]https://pioneersofchange-summit.org/slp/maja-goepel/, 18.3.2020[2] studienscheiss.de: Zitate Albert Einstein, 2.4.2020 [3] www.zitate.de: Erich Fromm, 5.4.2020 [4] Welt.de: Wie der Homo Sapiens so erfolgreich werden konnte, 2.4.2020 [5] Diese Zeilen stammen aus einem Brief von Rainer Maria Rilke „an einen jungen Dichter“ (Franz Xaver Kappus), in dem sie eingestreut sind. Zum Brief: www.rilke.de/briefe/230403.html