Wir trotzen der Krise digital. Klimaaktivismus und COVID-19


Keine Versammlungen, kein zivilier Ungehorsam, keine Plena. Wie geht Protest, wenn Versammlungen über zwei Personen verboten sind? Viel!

Aktivismus ist in Zeiten von Physical Distancing so digital wie nie. Politisch aktive Menschen springen von der Online-Demo mit der Seebrücke zum #NetzstreikFürsKlima mit Fridays For Future und bilden sich weiter auf Webinaren der BUNDjugend. Protest findet auch ohne Versammlungsfreiheit statt – irgendwie. „Ich find das ja geil, dass das alles auch digital geht. Aber im real life ist es einfach geiler“, sagt Albrecht, aktiv bei BUNDjugend und Naturfreundejugend, am Telefon. „Die Motivation kommt ja nicht nur vom Plenieren und Sachen abstimmen, sondern eben auch, wenn man danach noch zusammen ’ne Limo trinkt.“

Meist ist das ja auch die Gelegenheit, um gemeinsam kreative Ideen für Aktionen zu entwickeln. Oder um sich durch Diskussion klarer zu werden über Motivation und Ziel für den Protest. Hinzu kommt die Herausforderung, trotz des Versammlungsverbotes Themen sichtbar zu machen und gesellschaftliche Zustände zu skandalisieren. Was macht es mit der Klimarechtsbewegung in Stuttgart, dass Versammlungen verboten sind und wir Aktivist:innen unsere freie Zeit nicht gemeinsam verbringen können?

Limo nach dem Plenum? Nur noch alleine

Ich, Lucia, bin bei Fridays For Future (FFF) sowohl in der Stuttgarter Ortsgruppe als auch in den bundesweiten Strukturen aktiv. Für unsere Ortsgruppe hat Corona eigentlich alles verändert: Wir trafen uns monatelang mindestens zweimal die Woche, zum Streik und zum Plenum. Jetzt können wir einander nur noch von den Bildschirmen aus zuwinken. Das verändert natürlich den Ablauf eines Plenums von einem lockeren Beisammensitzen bei Mate und Keksen hin zu einem raschen Abarbeiten der Tagesordnungspunkte ohne viel Ablenkung. Gruppenumarmung nach dem Plenum, adé…

Auch Paula erzählt von Video-Plena via Mumble. In ihren Gruppen – der Interventionistischen Linken Stuttgart (iL*) und Ende Gelände – seien die Plena ebenfalls kürzer und produktiver geworden. Aber der Austausch über Sorgen wegen der Coronakrise komme nicht zu kurz und das sei ihnen allen sehr wichtig. „Wir sind alle entweder Leute, die selbst zu einer Risikogruppe gehören oder die in einem Risikobereich arbeiten“, sagt Paula. Die Coronakrise betreffe sie deshalb alle ganz direkt. „Da ist es gut zu wissen, dass die anderen da sind.“ Es habe einige Wochen gedauert, bis sie alle „diese gewisse Schockstarre“ überwinden und einen guten Arbeitsmodus hätten finden können.

Bitte, bitte kein Zurück zur Normalität

Der Druck auf politische Gruppen, soziale und Klimagerechtigkeit auf die Agenda zu setzen, ist durch die Coronakrise größer geworden. Vor allem Seenotrettung und die verschlimmerte Lage wohnungsloser Menschen durch die Pandemie seien – sowohl bei der iL* als auch bei Ende Gelände – große Themen, sagt Paula. „Viele wollen jetzt einfach was tun, direkt.“

Dieses Gefühl teilen viele Aktivistis bei FFF: Zahlreiche Ortsgruppen beteiligten sich an Aktionstagen der Seebrücke auf Social Media, eine europaweite Gruppe arbeitet unter dem Namen „Solidarity For Future“ daran, Seenotrettung und Solidarität mit Geflüchteten stärker in den Fokus von FFF zu bringen. Gleichzeitig wächst außerdem die Sorge, dass die Klimakrise politisch und gesellschaftlich in Vergessenheit geraten könnte. FFF-Aktivistis sind viel mediale Aufmerksamkeit und Zuspruch gewohnt – für viele von uns ist das Herumexperimentieren mit Aktionsformen wie dem Netzstreik, deren Erfolg ungewiss ist, ein großer Schritt aus der Komfortzone.

Hinzu kommt, dass 2020 klimapolitisch ein entscheidendes Jahr ist. „Wenn die Hilfen nach der Coronakrise business as usual zementieren, ist das der Sargnagel für 1,5 Grad – und zwar völlig unvermeidbar“, sagte vor Kurzem ein Freund von FFF Potsdam. Albrecht findet deshalb, die Klimarechtsbewegung sei jetzt in einer entscheidenden Rolle. Sie könne Gedanken darüber anzustoßen, wie eine bessere Welt aussehen könnte.

„Alle reden jetzt von Solidarität – aber was das heißt, das ist vielen gar nicht klar, glaube ich. Kann ja nicht sein, dass dann alle jubeln, wenn nachher Automobilfirmen gerettet werden“, sagt er. Während Kulturschaffende, Pflegekräfte oder auch freiwillige Helfer:innen in der Krise bislang weitestgehend vergessen werden, wohlgemerkt.

Die Klimarechtsbewegung muss mehr digital kuscheln

Um mehr Menschen auf derlei aufmerksam zu machen, wird der Fenster-, Balkon- und Gartenzaunprotest gerade in allen Variationen ausgetestet. Ende Gelände Stuttgart bietet einen Bannermal-Service an: Öffentliche Einrichtungen, Kirchengemeinden und Privatpersonen können Banner bestellen, die dann per Lastenrad ausgeliefert werden. Auch bei FFF Stuttgart kann mensch für den Globalen Klimastreik am 24. April Banner, Poster und Plakate bestellen.

Kreidebilder und Adbusting sind ebenfalls schwer im Kommen – die Devise lautet: Stadtbild verändern! Sofern die Polizei Plakate nicht wieder abhängt, klappt das hoffentlich auch. Allerdings eine Protestform, die nur in der Stadt funktioniere, merkt Paula an: „Ich wohne in einem sehr kleinen Ort, wenn ich bei mir ein Banner aufhänge, sehen das vielleicht so drei Leute.“  

Ich habe gelernt: Die Klimarechtsbewegung ist anpassungsfähig. Wir sind bereit, strenge Maßnahmen zu befolgen, weil wir wissen, dass das gerade wichtig ist. Wir sortieren uns neu, organisatorisch und thematisch – aber stumm bleiben wir nicht. Außerdem: Für FFF-Aktivistis, die das Auf und Ab der öffentlichen Aufmerksamkeit noch nicht so gut kennen, ist die Krise frustrierender als für Aktivistis mit mehr Erfahrung. Lasst uns also alle doch noch ein bisschen näher zusammen rücken (digital versteht sich!), gemeinsam über das solidarische Morgen nachdenken und das solidarische Jetzt gestalten. Mit allen sicheren Mitteln, die uns zur Verfügung stehen – und bald auch wieder mit Versammlungsfreiheit.