Zum Abschied: Ein bisschen Revolution


Kolumne, Juli 2022: Wo bleibt sie denn? Es ist schon vier Tage her. dass ich mein Abizeugnis in die Hand gedrückt bekommen habe, aber sie ist immer noch nicht hier. Vielleicht kommt sie mit der Deutschen Bahn? Oder etwa gar nicht?

Es sind doch aber auch immer die aufregendsten Aufeinandertreffen, wenn man sich zuvor noch nie begegnet ist, oder? Alle haben immer gesagt, dass sie kommt, sobald ich meinen Schulabschluss habe. – Die große Freiheit. Aber von ihr fehlt jede Spur. 

Zum Glück halte ich nicht die Dankesrede für die Schule. Die würde nämlich nicht so dankbar aussehen. „Danke Liebe Lehrkräfte, dass sie mich aufgerufen haben, obwohl ich mich nicht meldete und, dass ich Tage damit verbrachte zu weinen, weil ich so große Angst vor dem Sportunterricht hatte. Für mein weiteres Leben bin ich jetzt gewappnet, denn ich weiß wie ich die Wahrscheinlichkeit dafür berechne, dass die Klimakrise eintritt, der Faktor in Richtung Änderung liegt hier außerdem bei Null. Außerdem weiß ich jetzt endlich wie viel ich wert bin. Mein genauer Wert besteht aus zwei Ziffern, die groß auf mein Zeugnis gedruckt wurden, dieser wurde dadurch berechnet, dass ich morgens um acht für sechs Stunden in einen Raum sitzen musste und Gedichte interpretieren durfte, damit sie später als Fehlnterpretation gewertet werden…“ 

Um ehrlich zu sein dachte ich jahrelang, dass sich alle Menschen nach meinem Abischnitt erkundigen würden. Stattdessen fragen alle, was ich denn jetzt vorhätte. Wow, ich habe mein Abitur geschafft, aber auf diese Frage habe ich irgendwie keine gute Antwort. Zumindest schauen die meisten sehr verwirrt, wenn ich sage, dass ich ein Jahr Pause mache. Meine Eltern versuchen mich immer noch zu überreden doch direkt irgendwas „Richtiges“ zu machen. Aber wie genau stellen die sich das eigentlich vor? Aber was frage ich eigentlich. In einer Welt, in der jede Veränderung in einem Glas Wein ertränkt wird, gibt es keinen Platz für Zwischenräume. Und wäre ich die Freiheit, würde ich mich nicht in irgendwelchen Schulen, Unis und Büros einsperren lassen. Also ja, alle redeten von der großen Freiheit nach der Schule, aber die Gute braucht auch ein bisschen Entfaltungsmöglichkeiten. Ich finde ein Jahr ohne feste und verschlossene Räume dafür eigentlich perfekt. 

Außerdem gibt es ja auch in den Zwischenräumen Krisen. Vor allem in den Zwischenräumen. Denn da steigt das Flutwasser schneller, das brennt es schneller und da werden zuerst die leiden, die ausgeschlossen wurden. Und wenn du hinter einer dicken Wand sitzt, dann siehst du nicht, dass es draußen brennt und dann wirst du auch nicht rausrennen, um das Feuer zu löschen. Und wahrscheinlich sitzen die ganzen Journalist*innen auch hinter dicken Mauer. Denn sie berichten lieber über diverse 0,7 und 1,0 Abischnitte, anstatt über Wassermängel und Handlungsmängel in der Politik zu berichten. Na gut, sie sitzen halt in ihren Büros, aber um die 250.000 Abiturient*innen sitzen seit spätenstens dieser Woche nicht mehr in der Schule und anstatt diese direkt in die nächsten Räume abzuschieben, könnte man ihnen doch den Zwischenraum bieten, um sich zu entfalten. Kreativität entsteht dort wo es Langeweile gibt. Also warum nutzen wir diese Ressourcen nicht, die wir haben. 

Abgesehen davon, dass die meisten Schüler*innen nach der Schule erstmal ein Recoveryprogramm oder eine ernsthafte Therapie bräuchten, könnte man ihnen auch einfach die Zeit geben sich um sich und um andere zu kümmern. 

Würde ich jetzt ganz weit ausholen, würde ich behaupten, dass die Jugendliche, die in einer Null-Fehlertoleranzgesellschaft aufwachsen, gar nicht wirklich lernen können fest auf ihren eigenen Beinen zu stehen. Würde ich noch ein bisschen weiter ausholen, würde ich am liebsten mit einem Schlag das ganze Schulsystem abreißen (so wie Miley Cyrus bei Wrecking ball) und dann wieder neu aufbauen, weil Altbauten irgendwann zu gefährlich werden und so. 

Und vielleicht hören die ganzen Erwachsenen irgendwann auf mit ihren widersprüchlichen Aussagen und entscheiden sich, ob wir uns jetzt um die Erde kümmern, oder ob wir stattdessen lieber Mauern bauen sollen. 

Aber jetzt erstmal warte ich wohl noch ein bisschen auf die große Freiheit, vielleicht kommt sie ja noch und bringt die Kreativität gleich mit. Denn da gibt es noch ganz viele Systeme, die darauf warten revolutioniert zu werden. Oder um es in nicht so radikaler Erwachsenensprache zu sagen: wir brauchen eine Renovierung des Systems und vielleicht den ein oder anderen Neubau. Und ca. 250.000 kleine Abiturient*innenschmetterlinge wurden dieses Jahr in die Freiheit entlassen, die haben Zeit sich darum zu kümmern. Gleich nachdem sie gechillt und Pause gemacht haben.