Zusehen, wie das Zuhause einem Loch weicht


Schlechter Politik begegnet man am besten mit breiten Bündnissen und radikalen Aktionen. Letzten Freitag wurden im Rheinland und in der Lausitz Kohletagebauten besetzt. Ben und Lucia waren vor Ort und berichten von ihren Eindrücken.

Ein früher Freitagmorgen in Keyenberg. Es ist ruhig im Dorf, die Luft ist lau, man merkt, dass es heute heiß werden wird. Ben, Dirk, unser Gastgeber und Fahrer, und ich stehen vor dem Dorffriedhof. Klein, hübsch und alt ist er, so wie das ganze Dorf. Nur der Eingang passt nicht ins Bild: das Tor fehlt. Es wurde herausgerissen und abtransportiert, genauso ein Teil der Steine in der Friedhofsmauer zur linken und rechten Seite des ehemaligen Tors. Stattdessen klafft dort jetzt ein Loch mit schroffen Kanten. Wer hier das Grab seiner Angehörigen besuchen möchte, kann nicht mehr vergessen, dass das  nicht mehr lange gehen wird. 2024 ist es so weit, dann wird Keyenberg weggebaggert. Überall im Dorf ist das zu spüren. Seit ein paar Wochen auch hier, auf dem Friedhof.

„Das ist eine dieser Zermürbungsstrategien von RWE“, sagt Dirk. „Das haben die vor Kurzem erst gemacht, drei Wochen nachdem hier die letzte Beerdigung stattfand.“ Dirk ist um die sechzig und im Rheinland aufgewachsen. Sein echter Name ist der Redaktion bekannt, aber er wollte ihn nicht öffentlich lesen. Dirk erlebt die Zerstörung der Dörfer für den Kohletagebau seit Jahrzehnten mit und sie macht ihn fassungslos. 44.000 Enteignungen gab es in dieser Zeit, das ist eine Zahl, die Dirk nicht mehr loslässt.

Und noch eine Zahl, die einen stocken lässt: Über vierzig Dörfer wurden im Rheinischen Revier insgesamt schon abgerissen – oder „umgesiedelt“, wie Konzern und Landesregierung es nennen – , davon sechs allein für den Tagebau Garzweiler II. Noch einmal so viele sollen bis 2028 weichen. Aber die Grubenrandbewohner*innen wehren sich. Auch Dirk ist aktiv bei der Initiative Alle Dörfer bleiben, die sich für den Erhalt von Keyenberg, Kuckum, Lützerath, Oberwestrich, Unterwestrich und Beverath einsetzt. Gemeinsam mit Ende Gelände, Fridays For Future und dem neuen Bündnis Einsatz Kohlestopp hat Alle Dörfer bleiben am vergangenen Freitag, den 26. Juni, gegen den Kohleabbau protestiert. Es fanden Aktionen im Rheinland und in der Lausitz statt, Druck! berichtete auf Twitter und Instagram aus dem Rheinland.

Kurz wird es ruhig in der Grube

Jede Gruppe protestiert auf ihre Weise: Fridays For Future und Alle Dörfer bleiben organisieren eine Menschenkette am Grubenrand, außerdem findet ein Klimastreik im nahe gelegenen Hochneukirch statt. Zeitgleich besetzt Einsatz Kohlestopp unangekündigt mit rund 80 Aktivist*innen die Bagger von Garzweiler II. Das ist ein besonderes Risiko für die Aktivist*innen, weil ihnen der Schutz der Masse von angekündigten Aktionen fehlt. Der Protest zielt auf die Pläne der Bundesregierung für den Kohleausstieg, die eine Woche später  – also am heutigen Freitag – in einem Gesetz festgeschrieben werden sollen und die lauten: Kein rechtzeitiges Ende der Kohleverstromung, was die Chancen auf das Erreichen von 1,5 Grad drastisch schmälert, Einige sagen: es verunmöglicht.

Es ist heiß und laut auf dem asphaltierten Aussichtspunkt Garzweiler Nord. Die Sonne brennt, der letzte, noch unbesetzte Bagger dröhnt. Hier, und nur hier, dürfen wir uns aufhalten. Von allen anderen Aussichtsorten wurden wir von der Polizei weggeschickt, selbst mit Presseausweis. Aber der Blick über die Grube ist gut. Die Aktivist*innen sind nicht zu erkennen, weil die Entfernung so groß ist, aber wir sehen ja, welche Bagger still stehen. Kurz vor neun Uhr, Ben und ich gähnen um die Wette, weil wir seit vier auf den Beinen sind, ist die Aufregung plötzlich groß. Dirk läuft auf uns zu, er lacht. „Der achte Bagger ist besetzt“, sagt er. „Das ist ein historischer Moment.“

Acht Bezugsgruppen von jeweils ungefähr zehn Leuten haben die Bagger geentert. In fünf Jahren und sieben Aktionen ist das Ende Gelände mit angekündigtem zivilen Ungehorsam nicht einmal gelungen. Für vielleicht ein, zwei Stunden bleibt dieser wünschenswerte Zustand aufrecht. Am Grubenrand riecht es ein bisschen nach Zukunft, die Pressesprecher*innen von Einsatz Kohlestopp springen aus Freude über ihren Erfolg vor der unwirklichen Kulisse herum. Und vor allem fällt auf: Es ist still.

Bagger mit Banner – nur ein stiller Bagger ist ein guter Bagger.

In der Tiefe der Grube ist das Wummern der herabstürzenden Kohle, vom Förderband auf den Boden, verstummt. Dieses Mal konnten Polizist*innen und RWE sich nicht vorbereiten. Etwas später überhöre ich ein Gespräch zwischen Arbeiter*innen und Beamt*innen, die davor die Lage besprechen: „Ich habe den Überblick verloren, was die heute noch vorhaben“, sagt einer von ihnen.

Polizei und RWE-Patrouillen

Dieser Kohleausstieg ist nur temporär, ein Symbol (wenn auch real Emissionen eingespart werden), aber ein starkes. Radikale Aktionen, eingebettet in breite Bündnisse zeigen, wie ernst es den Aktivist*innen ist. Zu Recht, denn das Kohleausstiegsgesetz ist, in den Worten von Carla Reemtsma (Fridays For Future) „eine Farce, ein Skandal.“

Der Kohleausstieg in Deutschland müsste allerspätestens 2030 vollendet sein, wenn Deutschland dem Paris-Vertrag gerecht werden will. Im neuen Kohleausstiegsgesetz allerdings wird das Ausstiegsdatum für jedes einzelne Braunkohlekraftwerk festgeschrieben und vertraglich mit den Betreibern der Kraftwerke geregelt, inklusive Entschädigungszahlung. Das Ganze richtet sich nach dem sogenannten Kohlekompromiss aus dem Januar 2019. Das letzte Kraftwerk, Boxberg Q in der Lausitz, wird damit erst 2038 ausgeschaltet.

„Damit wird unsere Zukunft an die Kohlelobby verkauft“, sagt Christina Schliesky von Fridays For Future Hochneukirch bei der Pressekonferenz am Grubenrand. „Dieses Gesetz stellt kein Kohleausstiegsgesetz dar. Es ist mehr ein Kohlerettungsgesetz!“

Wer wie Christina in einem Ort nahe der Grube lebt, wacht jeden Morgen mit dem anhaltenden Lärm der Bagger auf und geht abends mit ihm zu Bett. Anwohner*innen kennen den Werksschutz von RWE nur zu gut, der, einer Parallpolizei gleich, regelmäßig mit seinen weißen Pickups durch die Dörfer patrouilliert. „Die gucken da, ob irgendwas besetzt wird oder so“, erklärt Dirk.

Ein Gesetz, das altmodischer scheint als die Bibel

Christina, die 15 ist, verliert dank Kohleausstiegsgesetz in zweifacher Hinsicht ihre Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft. Einerseits, als junger Mensch, der die Folgen der Klimakrise spüren wird, wenn sie richtig in Mitteleuropa ankommen. Andererseits, als Anwohnerin des Tagebaugebietes, die zusehen muss, wie die Umgebung ihres Zuhauses einem großen Loch Platz machen muss. Im Entwurf für das Kohleausstiegsgesetz steht dazu die nüchterne Bemerkung, zu dem „vorliegenden Regelungsentwurf“ bestünden „keine gleichermaßen wirksamen und kosteneffizienten Alternativen“.

Dabei haben Institute wie das Fraunhofer SE längst berechnet, dass ein Kohleausstieg 2030 möglich ist und selbst das wirtschaftsliberale Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung stellt in einer Studie fest, dass es „keine energiewirtschaftliche Notwendigkeit“ für die Ausweitung von Garzweiler II gebe.

Die herabfallende Kohle wummert – wie der RWE-Mitarbeiter das so nah dran wohl aushält?

Trotzdem wird eine künftige Bundesregierung am Kohleausstieg nicht mehr rütteln können. Denn die aktuelle Regierung wird gegen Ende des Sommers Verträge mit den Betreibern der Braunkohlekraftwerke aushandeln, in denen Ausstiegsdaten und Entschädigungszahlungen im Voraus festgelegt werden (für Steinkohle gibt es andere Regelungen). Damit lohnt sich auch ein früherer Ausstieg selbst dann nicht mehr, wenn der fossile Strompreis relativ zu den Erneuerbaren himmelschreiend ist – denn nur, wer zum vereinbarten Datum aussteigt, bekommt Asche vom Staat.

4,4 Milliarden Euro sind als „Entschädigung“ dafür vorgesehen, dass eine Branche, deren Zeit mehr als rum ist, ihr Geschäftsmodell aufgibt. Das ist ein frecher Widerspruch zum ansonsten hoch gelobten freien Markt, der schon die richtigen Entscheidungen trifft. Fast achtzig Prozent der Deutschen wollen keine Kohleverstromung mehr – aber dennoch bezahlen sie noch fast zwanzig Jahre dafür, ob sie wollen oder nicht. Wahrscheinlich kann gegen die Ausstiegsverträge nicht einmal geklagt werden, so steht es  zumindest in den Entwürfen.  Kein Bock auf 2038

Fad schmeckt es, wenn jetzt zur EU-Ratspräsidentschaft auf der Internetseite des Bundesministerium für Entwicklungszusammenarbeit zu lesen ist: „Europa hilft. Auch in armen Ländern.“ Der Eindruck, dass Europa einfach so weitermacht – solange die Probleme nicht hier ankommen – ist wohl näher an der Wahrheit. „Das hier ist Klimarassismus“, sagt Zade Abdullah, Pressesprecherin von Einsatz Kohlestopp.

Gegen drei Uhr am Nachmittag bringt Dirk uns in seinem Wohnmobil zum Bahnhof in Erkelenz. Es fühlt sich an wie acht Uhr abends nach diesem Tag. Ben und ich sind völlig erledigt, aber Dirk und seine Frau Elke machen jetzt noch Gesa-Support [1]. Ob er auch so müde ist? „Es geht eigentlich. Ich bin einfach froh, dass heute so viele hier waren. Wir brauchen dringend so viel Unterstützung.“

Die Klimakrise ist nichts, was uns in Zukunft droht. Sie ist da, mit ihrer ganzen Ungerechtigkeit, selbst im Globalen Norden wird sie an Orten wie Garzweiler II spürbar. Und breite Bündnisse mit einem bunten Strauß an Aktionsformen können ihr zumindest eine geballte Portion Trotz und Unwillen entgegensetzen. Das ist, was die Klimagerechtigkeitsbewegung braucht in diesen Monaten der herben Rückschläge.

Fotos: Ben Engelhard

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[1] Gesa ist die Abkürzung für Gefangenensammelstelle. Gesa-Support bedeutet, dass Aktivist*innen andere unterstützen, die bei der Aktionsräumung von der Polizei festgenommen wurden.